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Utopie des Alltags in wahnsinniger Zeit

■ Jan Schütte über Käutners Film „Unter den Brücken“, den er im Abaton vorstellt

Das Kino ist 100. Aus diesem Anlaß zeigen Filmemacher und Kritiker im Abaton Filme, die sie für wichtig halten. Der Hamburger Regisseur Jan Schütte hat sich Unter den Brücken ausgesucht.

taz: Warum gerade dieser Film?

Jan Schütte: Ich mochte ihn eigentlich schon immer. Er ist einer meiner Lieblingsfilme.

Wo hast Du ihn gesehen?

Im Kino, aber das ist lange her. Da war ich noch Student. Dann habe ich Anfang der 90er Jahre für die Berlinale einen Katalog zusammengestellt und dafür den Film noch mal auf Video angeschaut.

Was gefällt Dir an ihm?

Seine lyrische Poesie. Er hat viel von den französischen Filmen der 30er Jahre. Es geht um eine persönliche, fast intime Geschichte. Und im Hintergrund steht die Frage „Wie soll man leben?“, die der Film anhand einer Männer-Frauen-Geschichte entwickelt. Schön dabei ist der Humor.

Würdest Du Helmut Käutner als Dein Vorbild bezeichnen?

Ich weiß nicht, konkrete Vorbilder gibt es vielleicht gar nicht. Da gibt es eine ganze Reihe von Filmen, die man gut findet, und dann setzt man schließlich doch etwas Eigenes dagegen. Ich würde eher von Bewunderung sprechen, die empfinde ich ganz bestimmt dem Film und Käutner gegenüber.

Der Film wurde mitten im Krieg, 1944, gedreht. Findest Du das nicht etwas heikel?

Ein bißchen ist der Film auch ein Stück Utopie im Kriege. Der Krieg, die Nazis spielen ja keine Rolle, sie werden nicht gezeigt. Natürlich steht dahinter ein gutes Stück Eskapismus. Zugleich aber geht es auch um eine Utopie des normalen Alltagslebens. Daß der Film auch seine heiklen Seiten hat, ist klar. Man kann sich natürlich die Frage stellen, ob man unter den Nazis Filme drehen sollte. Ich würde diese Frage ganz klar verneinen. Aber wenn man denn Filme macht, dann so einen. Einen, der ein Gegenmodell liefert.

Etwas anderes: Der Essayist John Berger spricht an einer Stelle davon, daß die Lücke zwischen den heutigen Erfahrungen und den Erzählungen und Bildern, diesen Erfahrungen einen Sinn zu geben, immer größer wird. In solchen Lücken würden Menschen verrückt werden. Fällt Dir etwas dazu ein?

Für Hollywood-Kino, für entleerte Science-fiction, die mit unserem Leben, so wie wir es ganz konret leben, nichts mehr zu tun hat, trifft dies Zitat bestimmt zu. Aber es gibt doch gerade auch Bilder, die über diese Lücke eine Spannung erzeugen, die nicht Realität abbilden, aber zwischen den Geschichten und dem Alltag eine Beziehung herstellen.

Werden Filme, die solche Bilder bieten, nicht immer seltener?

Mag sein, daß im Moment Filme der extremen Distanz zwischen Geschichte und Alltag überwiegen. Käutners Film ist einer, der in der Lage gewesen wäre, Leute davor zu bewahren, verrückt zu werden. In einer irrwitzigen Situation zeigt er eine andere Art zu leben. Die Lage damals war ja eine andere als die heute, auf die Berger sich bezieht. In einer völlig wahnsinnigen Zeit macht jemand einen Film über den Alltag. Dieses konkrete Stück Utopie verbindet sich mit ihm.

Fragen: Dirk Knipphals

Abaton, 20.15 Uhr

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