Urteil im Kofferbomber-Prozess: Lebenslang für den Gescheiterten
Der 24-jährige "Kofferbomber" Youssef El Haj Dib wird in Düsseldorf wegen vielfachen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
DÜSSELDORF taz Unzählige Kameras surren. Ein Blitzlichtgewitter prasselt auf ihn ein. Hilflos versucht Youssef Mohamad El Haj Dib sein Gesicht mit ein paar Blatt Papier zu verdecken. Er hat seine schulterlangen dunklen und in der Mitte gescheitelten Haare hinter die Ohren geklemmt. Das Kevin-Kuranyi-Bärtchen vom Beginn der Hauptverhandlung ist inzwischen einem Vollbart gewichen. Wodurch der 24-jährige Libanese bei Prozessende auch noch so aussieht, wie man sich gemeinhin einen Islamisten vorstellt.
Der heute 24-Jährige Youssef Mohamad El Haj Dib ist als jüngstes von 13 Geschwistern in einem streng religiösen sunnitischen Elternhaus im nordlibanesischen Tripolis aufgewachsen. Seit Vater ist pensionierter Beamter einer staatlichen Landwirtschaftsgenossenschaft, seine Mutter Hausfrau. Über ihrem Haus weht eine schwarze Fahne mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. "Ich war das Nesthäkchen", berichtete der Angeklagte im Prozess, "ein verwöhntes Kind". Fünf seiner zehn noch lebenden Geschwister wohnen inzwischen in Skandinavien oder Kanada. Ein Bruder wurde bei einem israelischen Luftangriff im Libanonkrieg 2006 getötet, ein anderer starb im Kampf um das Palästinenserlager Nahr al-Bared ein Jahr später. Er soll wie zwei weitere Brüder, die derzeit in einem libanesischen Gefängnis einsitzen, der mit al-Qaida verbündeten Fatah al-Islam angehört haben.
Plötzlich verfinstert sich sein Blick. Dann verliert der sonst so lethargisch wirkende junge Mann für einen kurzen Augenblick die Kontrolle. Der streng religiöse Muslim reckt seine Arme zu einer ganz weltlichen Geste hoch: Wütend zeigt er mit beiden Händen den Stinkefinger.
Es war der vorerst letzte Auftritt El Haj Dibs vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht. Am Dienstag verkündete der Vorsitzende Richter Ottmar Breidling das Urteil gegen den "Kofferbomber" von Köln: lebenslange Haft wegen vielfachen versuchten Mordes. "Wer die heimtückische Tötung einer Vielzahl von Menschen aus Hass und Feindseligkeit und zudem mit gemeingefährlichen Mitteln plant und aus seiner Sicht alles für den Erfolg der Tat getan hat, der hat solche Schuld auf sich geladen, dass nur die Höchststrafe die gerechte Antwort des Gesetzes sein kann", begründete Breidling die Entscheidung des Gerichts.
El Haj Dibs Bekundung, er habe einen inneren Wandel vollzogen und die beiden am 31. Juli 2006 in zwei Zügen deponierten Bomben ganz bewusst so konstruiert, dass sie nicht explodieren konnten, sei eine Schutzbehauptung gewesen. Er habe sich immer wieder in Widersprüche verwickelt. Leider sei der Angeklagte nicht dem Rat des Gerichts gefolgt, "keine Geschichten aus 1001 Nacht zu erzählen", sondern ein "Geständnis in der Nähe des Tatgeschehens" abzulegen.
"Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, dass es niemals meine Absicht war, jemanden zu töten", hatte der 24-jährige Libanese in seinem aus dem Arabischen übersetzten Schlusswort in der vergangenen Woche gesagt. Er schloss es mit vier deutschen Worten: "Es tut mir leid." Wegen "Rücktritts vom Versuch" plädierten seine Verteidiger auf Freispruch - vergeblich.
"Dass es nicht zu einem verheerenden Blutbad mit einer Vielzahl von Toten gekommen ist, ist allein dem Umstand zu verdanken, dass der Angeklagte und sein Mittäter Dschihad Hamad einem Irrtum beim Bau der Sprengsätze unterlegen sind", sagte Breidling. Deswegen teile er die Einschätzung der Bundesanwaltschaft, "dass Deutschland einem islamistischen Anschlag nie näher gestanden hat als im vorliegenden Fall".
Es war ein langer Prozess im Hochsicherheitsgebäude am Düsseldorfer Kapellweg. Rund ein Jahr benötigte der 6. Strafsenat des OLG, um zu seinem Urteil zu gelangen. Erstaunlich für einen Fall, der auf den ersten Blick so einfach scheint. Dass El Haj Dib und sein bereits in Beirut zu 12 Jahren Haft verurteilter Komplize Hamad tatsächlich zwei Kofferbomben in den Regionalzügen nach Koblenz und Hamm abgestellt hatten, war von Beginn an unstrittig gewesen. Streitpunkt war einzig die Frage, ob es die beiden absichtlich nicht zu einer Explosion haben kommen lassen oder ein "handwerklicher Fehler" die Detonation verhinderte.
Aber der zur Selbstgefälligkeit neigende Vorsitzende Richter Breidling ist bekannt dafür, sich gerne viel Zeit zu nehmen. Sicherlich, der Unterschied zwischen grobem Unfug und versuchtem Mord ist der alles Entscheidende - doch bedurfte die Antwortfindung wirklich der 60 Verhandlungstage und mehr als 70 Zeugenvernehmungen?
Zum Schluss hatte selbst Breidling genug. Besonders die Endphase verlief äußerst schleppend. Mit immer neuen Anträgen sorgte die Verteidigung dafür, dass entgegen getroffener Absprachen das Gericht mal um mal erneut in die schon abgeschlossene Beweisaufnahme eintreten musste. Die eigentlich für Mitte November angesetzte Urteilsverkündung verzögerte sich in den Dezember hinein. Das deutsche Strafrecht sieht keine Frist für Anträge vor. Sie können also jederzeit gestellt werden, sogar noch nach den Plädoyers. Sie können also jederzeit gestellt werden, sogar noch nach den Plädoyers - auch wenn Breidling dieses Recht für ein dringend vom Gesetzgeber zu korrigierendes Ärgernis hält, wie er bei seiner Urteilsbegründung deutlich zum Ausdruck brachte.
Zu wirklich neuen Erkenntnissen führten die vielen Anträge der Verteidiger nicht. Aber damit hatten sie wohl auch selbst nicht gerechnet. Ihr offensichtliches Ziel war es vielmehr, sich Argumente für die bereits angekündigte Revision zu erarbeiten - eine durchaus zulässige Strategie. Grundlage einiger Beweisanträge des Verteidigers Bernd Rosenkranz seien offenkundig "lediglich Behauptungen ins Blaue hinein ohne jeden Hintergrund", giftete Breidling. Der lapidare Kommentar des Hamburger Rechtsanwalts: "Dazu äußere ich mich nicht."
Immerhin führten diese Aktivitäten die Prozessbeobachter noch einmal kurz vor Prozessende an den Ausgangspunkt zurück. Denn sie veranlassten Breidling am Dienstag vergangener Woche, im Gerichtssaal auf zwei großen Leinwänden die Pressekonferenz der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamts vom 18. August 2006 vorzuführen. Bei diesem Termin hatten die Ermittler erstmalig jene Videos präsentiert, die Überwachungskameras des Kölner Hauptbahnhofs von den "Kofferbombern" aufgenommen hatten und die seitdem das Bild El Haj Dibs in der Öffentlichkeit prägen.
Sie zeigen einen damals noch unbekannten bärtigen jungen Mann, der in Michael Ballacks Fußballnationalmannschaftstrikot mit der Nummer 13 über den Bahnsteig schlendert. Die Aufnahmen haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Die abstrakte Gefahr islamistischer Terroranschläge schien nun auch in der Bundesrepublik real geworden zu sein. Er habe ein "Nationalsymbol einer Gesellschaft" getragen, "die er im Augenblick aktiv bekämpfte", sagte Bundesanwältin Duscha Gmel in ihrem Schlussplädoyer.
Nach Zählart der Sicherheitsbehörden war es der sechste islamistisch motivierte Versuch, einen Anschlag auf deutschem Boden zu verüben. Auch wenn El Haj Dib kein Mitglied einer terroristischen Vereinigung gewesen sei, "so handelte es sich der Sache nach, ja auch der Motivation und der Zielrichtung nach, um eine zutiefst terroristische Tat", sagte Richter Breidling. Aber was bringt einen jungen Mann auf eine solche "Bombenidee"? Ursprünglich sollen El Haj Dib und sein Mittäter Hamad sogar einen Anschlag in einem Stadion während der kurz zuvor zu Ende gegangenen Fußballweltmeisterschaft geplant haben. Nur wegen der hohen Sicherheitsvorkehrungen hätten sie davon Abstand genommen, habe ihm Hamad bei einer Befragung in Beirut gestanden, sagte ein BKA-Kommissar aus.
Nach seiner Schulzeit und drei Deutschkursen am Beiruter Goethe Institut kam El Haj Dib im September 2004 mit einem Studentenvisum vom Libanon nach Deutschland. Anders als von ihm selbst behauptet, geht das Gericht davon aus, dass seine radikalislamische Grundeinstellung nicht zuletzt aufgrund familiärer Prägung schon in seiner Heimat bestand. Aufgrund seiner Situation in der Bundesrepublik habe sich der religiöse Fanatismus allerdings noch verstärkt.
Als "Flucht nach vorn" sei er in die Rolle des islamistischen Gotteskriegers geschlüpft, stellten Norbert Leygraf und Norbert Schalast vom Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen in ihrem Gutachten fest. Seine Hinwendung zum militanten Islam interpretierten die Gutachter als eine "Gegenreaktion" auf die ihm auch zwei Jahre nach Studienbeginn in Kiel fremd gebliebene Umwelt. Mit "moralischem Rigorismus" habe er versucht, "seine eigentlich vorhandene Unsicherheit und Bedürftigkeit" zu kompensieren.
Denn El Haj Dib sei als Hoffnungsträger seiner Familie mit seinem Studium und dem Leben in der Bundesrepublik völlig überfordert gewesen. "Er war an einem Punkt angelangt, an dem er seinen Eltern sein beschämendes Scheitern hätte eingestehen müssen", sagte Leygraf vor Gericht. Der junge Libanese habe sich in einer "persönlichen Selbstwertkrise" befunden, zumal er auch beim "weiblichen Geschlecht keinen Erfolg" vorzuweisen hatte. Die Flucht in den Islamismus sei eine "im doppelten Sinne verfehlte Krisenbewältigung" gewesen. Sie habe seine Isolation noch gesteigert und die Integration verhindert. "Körperlich war er in Deutschland, aber im Geiste lebte er im Dschihad", sagte ein früherer Studienkollege aus. Und dann fing El Haj Dib an, eine Bombe zu bauen.
Für Verteidiger Rosenkranz eine " spleenige, jungenhafte Idee". Bei seiner Tat sei "diese Jugendlichkeit und Jungenhaftigkeit" des heute 24-jährigen Angeklagten durchgekommen, der "in seinem ganzen Auftreten nicht wirklich erwachsen" wirke. Motiv sei "Antipathie gegen die Amerikaner und den Westen insgesamt" gewesen, ausgelöst durch die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in westlichen Zeitungen, aber auch das militärische Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten im Irak und in Afghanistan. "Wie wenn David dem Goliath eins auswischt", habe sein Mandant "ein Stück weit" mit Anschlägen auf us-amerikanische Soldaten "sympathisiert".
Darüber hinaus habe El Haj Dib die geringe öffentliche Aufmerksamkeit erleben müssen, die eine Anti-Karikaturen-Demonstration hervorrief, an der er sich im Februar 2006 in Kiel beteiligt hatte. "Das schafft Frust, denke ich mal", sagte Rosenkranz. Die daraus resultierende Entscheidung zum gewaltsamen Protest ähnele den Beweggründen radikaler Linker zu Zeiten des Vietnam-Krieges, in die Rote Armee Fraktion einzutreten.
Der Vergleich wirkte arg bemüht. Dabei kennt sich Rosenkranz eigentlich aus: Einst verteidigte er das RAF-Mitglied Knut Folkerts. Auch sein Düsseldorfer Kollege Johannes Pausch, der zweite Verteidiger El Haj Dibs, ist als früherer Anwalt von Adelheid Schulz RAF-erfahren. Inzwischen haben sich die beiden auf mutmaßliche Protagonisten des islamistischen Terrors spezialisiert. Im kommenden Jahr werden Pausch und Rosenkranz erneut dem Vorsitzenden Richter Ottmar Breidling gegenüber sitzen: im Prozess gegen die "Sauerlandgruppe", der im Frühjahr kommenden Jahres vor dem Oberlandesgericht beginnen soll.
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