: Unwirtliche Wahrheit
Heute debattiert die Bürgerschaft das „Bettler-Papier“: Die Probleme aber liegen woanders ■ Von Silke Mertins
Kaum ein Thema hat soviel spontane Empörung und Solidarität mit den Armen in der Bevölkerung ausgelöst wie die Senatsdrucksache „Maßnahmen gegen die drohende Unwirtlichkeit der Stadt“. Heute werden die auch in der SPD sehr umstrittenen Pläne der Innenbehörde, die „Visitenkarten“ der City von „Randständigen“ zu säubern, in der Bürgerschaft debattiert. Die GAL hat das Thema „Mehr Wirtlichkeit für die Armen in der Stadt“ zur Aktuellen Stunde angemeldet.
Für die SPD heißt es nun: Farbe bekennen. Stellt die Fraktion sich ein Jahr vor den Wahlen hinter Bürgermeister Henning Voscherau, der als Auftraggeber des „Bettler-Erlasses“ gilt? Oder lassen sie Vorscheraus Tabubruch und den Abschied von sozialdemokratischen Prinzipien zu? Es gibt Dinge, die tiefer sitzen als Loyalität gegenüber dem Bürgermeister, meinen viele. Dieses Thema zum Beispiel.
Der Titel des „Maßnahmen“-Papiers ist nicht nur ein Mißbrauch eines Buchtitels von Alexander Mitscherlich – „Die Unwirtlichkeit der Städte“ –, sondern lenkt auch von den wirklich unwirtlichen Orten, Taten und Zuständen in Hamburg ab:
– Von sechsspurigen Asphaltpisten wie der Ost-West-Straße, über die ohrenbetäubende Verkehrslawinen rollen und die die Stadt zerschneidet und verpestet;
– von menschenfeindlicher Architektur wie den Wohnsiedlungen in Mümmelmannsberg, Kirchdorf-Süd oder Sandbek;
– von Stadtfehlentwicklungen wie der toten und deshalb nach Ladenschluß unwirtlichen Innenstadt; – von trostlosen Flüchtlings-Containerlagern wie an der Amsinckstraße oder Autobahn;
– von Stadtteilen wie St. Pauli, wo es Platz für Durchgangsverkehr, nicht aber für spielende Kinder gibt;
– von betrunkenen männlichen Touristen und anderen Vergnügungssüchtigen, die Parks und Bürgersteige vollpissen;
– vom Bezirksamt Altona, das wochenlang wilde Müllkippen nicht wegräumen läßt, obwohl dort Ratten gemeldet wurden;
– von Polizisten wie denen der Wache 11 am Hauptbahnhof, die Ausländer mißhandeln;
– von Busfahrern der HVV-Linie 112, die in Neumühlen lebende Flüchtlingskinder anbrüllen, weil sie im Bus laut lachen;
– von U-und S-Bahnhöfen, die so gebaut sind, daß sie für Frauen nachts unbenutzbar sind.
Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. Für den Bürgermeister ließen sich sicher viele sozialdemokratische Probleme finden, mit deren Lösung er sich befassen könnte. Nach jahrzehntelanger SPD-Herrschaft in der Hansestadt dürfte zudem die Frage erlaubt sein, wer diese oder andere Unwirtlichkeiten zu verantworten hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen