Unwetter-Gefahren: Comeback der Hagelrakete
Die Hagelrakete ist zurück. Zumindest in der Ostschweiz. Im Kanton Thurgau formieren sich ganze Hagelabwehrverbände, um die weiße Gefahr vom Himmel zu schießen.
THURGAU ap | Wenn sich in der Ostschweiz ein Unwetter zusammenbraut, stehen die Schützen des örtlichen Hagelverbandes Gewehr bei Fuß. Jetzt heißt es, gezielt die weiße Gefahr abzuwehren, denn die Hagelkörner verwüsten große Teile der Landwirtschaft, zerstören Dächer, Fenster und Autos.
Die Unwetterwarnung beim Hagelabwehrverband Ostschweiz erfolgt über den Wetterdienst Meteo-Radar und geht an sechs so genannte "Alarmierer", die als Schnittstellen funktionieren. Ihre Standorte sind nach einem Koordinatensystem festgelegt worden. Einer der "Alarmierer" verfolgt jeweils die Wolken, berechnet den Verlauf des Gewitters und analysiert die Hagelgefahr.
Bei Bedarf werden die für die einzelnen Sektoren eingeteilten Hagelabwehrschützen per Pager oder SMS aufgeboten und über das Gebiet und die Zeit des Hagelabwehreinsatzes informiert. Um Flugzeuge nicht zu gefährden, muss aber bei der Luftverkehrsüberwachung Skyguide zuvor unbedingt eine Raketen-Starterlaubnis eingeholt werden.
Vereinzelt und ohne eine Strategie in den Gewitterhimmel geschossen, sind Hagelraketen wirkungslos. Erst der koordinierte, flächendeckende und auf Radar-Daten abgestützte Einsatz verhindert Unwetter. Darauf schwören die Hagelschützen. Und die Statistik gibt ihnen recht.
Schon 1998 habe man im Raum Egnach damit begonnen, systematisch hagelverdächtige Gewitter nach exakten Vorgaben zu beschießen, berichtet Projektleiter Emil Müller aus Steinebrunn. Man orientierte sich dabei an Daten des Wetter-Radars. "In den letzten zehn Jahren ist in der Region kein Hagelwetter mehr aufgetreten, wenn die Abwehr rechtzeitig und koordiniert erfolgt ist", sagt Müller.
Ausnahmen gibt es immer bei dem Versuch, die Natur zu beherrschen: So auch am 26. Mai diesen Jahres. Außergewöhnlich früh im Jahr hatte sich eine Hagelfront aufgebaut, die sich rasend schnell entlud und in der Landwirtschaft beträchtliche Schäden anrichtete. Die Hagelabwehrschützen hatten keine Chance, das Unwetter rechtzeitig abzuwehren.
Diese Ausnahmen waren früher die Regel. Das Hagelschießen war umstritten. Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich hatte in den Jahren 1978 bis 1983 im Napfgebiet zwischen Bern und Luzern mit russischen Hagelraketen Versuche durchgeführt und nur etwa ein knappes Drittel der aufziehenden Unwetter verhindern können. Kosten und Erfolge standen in einem krassen Gegensatz. Anders im Oberthurgau. Hier wurde von 1999 bis 2007 eine völlig neue Methode ausprobiert, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus Deutschland stützt.
Der Thurgauer Hagelabwehrverband stand nach den schlechten Ergebnissen der alten Methode 1998 vor der Auflösung. Müller und ein paar anderen überzeugten Hagelabwehrschützen wurde jedoch die Chance für die Erprobung des neuen Systems gegeben. Die Erfolge aus der Testphase überzeugten die Wetterschutz-Organisation 2007 das Projekt um weitere vier Jahre zu verlängern.
In den Jahren 2005 und 2006 seien im Kanton Thurgau allein an landwirtschaftlichen Kulturen Hagelschäden von je zwei Millionen Franken entstanden, sagt Müller. Die Direktion der Gebäudeversicherung Thurgau bestätigt, dass inzwischen im Abwehrgebiet gegenüber dem nicht beschossenen Teil des Kantons die Schäden massiv zurückgegangen sind.
"Vor allem seit sich die Hagelwetter häufen und stärker geworden sind wie in diesem Jahr, steigt auch wieder das Interesse am Hagelschschießen", berichtet Müller. Der Hagelraketen-Spezialist wird aus verschiedenen Landesteilen zu Vorträgen eingeladen. 2004 traten elf benachbarte St. Galler Gemeinden dem Thurgauer Verband bei, der heute Hagelabwehrverband Ostschweiz heißt.
Die Organisation hat ein bescheidenes Jahresbudget von 150.000 Franken (99.000 Euro) und zählt inzwischen 40 Gemeinden, die je nach Anteil der Kulturlandfläche einen abgestuften Beitrag leisten. Kleinere Verbände gibt es im Kanton Bern und in der Waadt. Bei Landwirten, Gartenbesitzern und Hauseigentümern stoßen auch sie wieder auf zunehmendes Interesse.
Die rund 200 Hagelabwehrschützen im Ostschweizer Verbandsgebiet absolvierten eine Grundausbildung, die sie mit einer Prüfung abschlossen. Ergänzungskurse vermitteln weiteres Wissen. Eine Hagelrakete fliegt in eine Höhe von 1.500 bis 2.000 Meter, wo sie explodiert und bis zu einer Milliarde von kleinen Partikeln aus Silberjodid verstreut. Das Silberjodid hat eine ähnliche Gitterstruktur wie Eis. Die ausgebrachten Partikel wirken als Kondensationskeime für die Bildung von Eiskristallen.
Um die Hagelbildung effizient zu verhindern, muss das Silberjodid von der Rakete direkt in die Aufwindzone vor dem Gewitter eingebracht werden. So bilden sich Eiskristalle, bevor die Gewitterthermik groß ist. Durch die noch schwache Thermik fallen die künstlich erzeugten Hagelkörner nach unten und tauen in der Übernullgrad-Zone wieder auf. Anstatt Hagel fällt Regen.
Ein ähnliches System wendet auch der bayrische Landkreis Rosenheim an. Allerdings wird hier der Hagel nicht vom Boden aus beschossen, sondern Hagelflieger stürzen sich mit kleinen Propellermaschinen in die Gewitterfront, um dort das Silberjodid zu verspritzen. Und in Bremerhaven wurde Anfang Juli eine Hagelkanone vorgestellt. Allerdings ist diese Variante, die in Belgien entwickelt wurde, wegen ihrer geringen Effizienz umstritten.
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