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Unterm Strich

Da kommen noch viele Unstimmigkeiten auf uns zu in dieser Woche. Der Spiegel, von seinem Interview der vergangenen Woche beflügelt, setzt in der Wahrheitsfindung über die Geheimdienstaktivitäten Marcel Reich-Ranickis nach. Nun soll der Literaturkritiker als polnischer Konsul in London im Jahre 1948 auch an der Rückführung von Exil-Polen beteiligt gewesen sein. Nach Angaben des Blattes soll sich der heute 74jährige in Berichten an die Führung in Warschau über die „verbrecherische politische Tätigkeit“ bestimmter Exil-Polen beklagt haben. Dabei, so das Magazin, sei auch von einer „engen Zusammenarbeit mit dem Militärattaché“ bei der Rückführung von in London lebenden Polen die Rede. – Nanu, woher dieser Sinneswandel?, fragt sich der Beobachter, und denkt an das taz-interne Roundtable-Mutmaßen über Ranicki und Hage, bei dem viel von Vätern, Söhnen, Simulation und Paranoia die Rede war. Will der Sohn nun doch den Vater erschlagen? Aber nein. Es sind nur Watschen, die der Spiegel austeilt. Der Knüppel bleibt noch im Sack. Zwar werden höchstgeheimnisträchtige Akten aus der Konsulatspost von 1949 ans Licht gefördert (fetzenhaft im Ausriß abgedruckt, damit die Perfidie des Verheimlichten noch an dokumentarischer Brutalität gewinnt), doch der Text zur „heiklen Post“ vernebelt sich selbst (Stichwort: Dekonstruktion). Die zwangsweisen Rückführungen, von denen Reich-Ranicki gewußt haben soll, entpuppen sich im Brief des damaligen Herrn Konsul als allgemeine Untersuchungen von Leuten, „die lange mit der Ausreise gezögert haben“. Was aber liegt zwischen Zwang und Zögern? Die Ungewißheit. So auch beim Spiegel: Einerseits soll Reich-Ranicki „kaum etwas“ mit dem oft bei der Überprüfung von Repatriierungs-Willigen hinzugezogenen Militärattaché „zu tun“ gehabt haben. „Aber ebenso wahrscheinlich hat er von den Rückführungen gewußt. Und das wäre dann mehr als ,nichts‘.“

Mehr als „nichts“ will in diesem Fall mehr als das bedeuten, was Reich-Ranicki dem Spiegel in der vergangenen Woche bereits erzählt hatte. Im ZDF-Kulturmagazin „aspekte“ vom Freitag indes war der Kritiker gesprächiger. Dort erklärte Reich-Ranicki, er habe während seiner Zeit als Generalkonsul und Geheimdienstmitarbeiter in London in den Jahren 1948/49 den Auftrag erteilt, die Namen von Exil-Polen auf Karteikarten sammeln zu lassen. Dies sei eine Aufgabe für eine „ihm nahestehende Dame“ gewesen, der er ein wenig Geld habe zukommen lassen wollen. Insgesamt dürfte es sich um etwa 2.100 Karteikarten handeln, „denn die Dame war sehr fleißig“. Der Literaturkritiker betonte, daß seines Wissens dadurch niemand zu Schaden gekommen sei. Es fragt sich, ob die „höchstens 10 oder 12“ informellen Mitarbeiter, von denen Reich-Ranicki im Spiegel-Interview sprach, ebenso eifrig zugearbeitet haben.

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