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Unterm Strich

Die ersten europäischen Reaktionen auf Heiner Müllers Tod erreichten uns aus Frankreich. Dort war der Dramatiker zuletzt im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum Gedenken an den Ersten Weltkrieg diskutiert worden. Nachdem man Müller mit einer Theaterproduktion nach Verdun eingeladen hatte, war es wegen gewisser Äußerungen des Regisseurs zum Streit gekommen. In einer Zeitung hatte Müller den Kriegs- und Veteranenfetischismus beklagt, worauf der Bürgermeister der Stadt ihn wieder auslud. Müller hielt das Ganze für ein Mißverständnis. Trotz alledem: Als den „einzigen großen Tragiker am Ende dieses Jahrhunderts“ (Libération), als „brandstiftenden Clown“ und „ketzerischen Sohn von Aischylos und Brecht“ (Le Figaro) haben französische Zeitungen gestern den deutschen Dramatiker gewürdigt. „Er war wie Aischylos von der Größe der Katastrophe hingerissen“, schrieb Le Figaro: „Sicher war er darin einer nationalen Tradition treu, die es von Schiller bis Heidegger, über Lessing, Hölderlin und Nietzsche immer verstanden hat, Deutschland im Lichte griechischer Mythen zu interpretieren.“ In seinen Werken sei „die Essenz des deutschen Geistes“ anzutreffen: „ironisch, düster, heftig, sentimental“. Weiter heißt es im Figaro: „Sein Theater ist die Übersetzung eines Aufstandes der Seele und des Körpers, ohne daß dieser auf eine Ästhetik oder Ideologie reduziert wird ... Seine Texte sind Brandbomben.“

Als den „rätselhaftesten Dramatiker“ der Nachkriegszeit, der „wohl am gewaltigsten zu stören“ vermochte, vergleichbar „einem Genet oder einem Beckett“, würdigte Libération den Verstorbenen. „Das Thema des Verrats zieht sich durch das ganze Werk dieses Erweckers, dieses scharfblickenden Desillusionisten, der niemals das Land verlassen mochte, das nicht mehr existiert: die DDR, weil dort die Utopie in der Verfassung verankert war.“

Der französische Theaterregisseur Jean Jourdheuil, der die meisten Werke Müllers ins Französische übertragen hat, schrieb in einer Würdigung: „Er provozierte nicht, er war selbst eine Provokation. Sein Werk besagt nichts anderes.“ Das Theater Heiner Müllers „war für viele von uns ein fantastischer Ort der Begegnung ... der so beschaffen war, daß er uns in vielerlei Hinsicht als politisches, lyrisches und philosophisches Kartenwerk der Epoche diente.“

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