: „Unsichtbare Bilder“
Eindringliches Dokument aus der Zeit der Hoffnung für die Linke: Das Metropolis zeigt den Film „La vie est à nous“
„Ich will doch nur essen, ohne vorher beten zu müssen“, sagt eine Wartende in einer Schlange vor einer Suppenküche. Ein anderer möchte „mal wieder ins Kino gehen können“. Kurz bevor sie an der Reihe sind, schließt die Suppenküche. Laien stellen in dem 1936 in Frankreich gedrehten Film Das Leben gehört uns ihren Alltag dar: Da wird zum Beispiel ein junger Arbeitsloser vor Hunger ohnmächtig; andere helfen ihm in ein Lokal, wo er etwas zu essen bekommt.
In plakativen Dialogen zeigt der Film die Lebensbedingungen der Arbeiter und den Kampf um deren Verbesserung. Ein Chor singt, die Töne werden klar getroffen, der Text agitiert: „Genosse, schöpfe Mut, du bist nicht allein. Kämpft für Eure Belange, nehmt das Leben in die Hand, das Leben gehört uns!“ Der Film, finanziert von der Kommunistischen Partei Frankreichs, wurde realisiert von einem Kollektiv, dessen Akteure auf Bezahlung und Nennung der Namen im Vorspann verzichteten.
La vie est à nous ist ein Dokument des Willens zur Umwälzung der Verhältnisse. Er entstand im Frühjahr 1936, für die Agitation zu den Wahlen im Mai jenes Jahres. Es war eine Zeit der Hoffnung für die Linke. Bei den Wahlen gewann das Volksfrontbündnis, Sozialisten und Kommunisten kamen zum ersten Mal in Frankreich an die Regierung. La vie est à nous ist ein historisches, ein bewegendes Dokument dieses Aufbruchs.
Mit dem Film wurden außerdem Genregrenzen gesprengt: Dokumentarische Sequenzen wechseln sich mit fiktionalen ab, die, ineinander montiert, die Aussagen noch verstärken. Und obwohl der Film als erster wichtiger französischer Dokumentarfilm gilt, nimmt die Handlung der inszenierten Sequenzen breiten Raum ein, Regie führte Jean Renoir.
Einige Kritiker warfen dem Film vor, zu demonstrativ politisch zu sein. Die Handlung ist gewiss symbolträchtig – die Kritik daran läuft aber ins Leere, handelt es sich bei dem Film doch explizit um einen Beitrag zum Wahlkampf der KPF. Entsprechend offen ging das Kollektiv mit agitatorischen Absichten an die Gestaltung. Richtiger wäre der Einwand, dass Widerstand nicht immer erfolgreich war – auch nicht in den 30er Jahren mit der seinerzeit starken Arbeiterbewegung. Aber als der Film entstand, schien für die Linke alles möglich. Dass dieses „einzigartige Dokument über diese Schlüsselperiode“ überhaupt gezeigt werden kann, ist einer aufwendigen Rekonstruktion zu verdanken: Der Film wurde in Frankreich verboten, als das Roll-back gegen die Reformen der Volksfront und die KP begann. Die Deutschen vernichteten nach ihrem Einmarsch in Frankreich die antifaschistische Kultur. Der Film wurde von den deutschen Besatzern zerstört und blieb jahrzehntelang ein „unsichtbarer Film“, wie es im Vorspann zur 1970 aufgeführten wiederhergestellten Originalfassung heißt. Jetzt ist er im Metropolis zu sehen. Gaston Kirsche
heute, 19 Uhr, morgen, 17 Uhr, Metropolis