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Unsere Identität liegt ja auch nicht in Bonn

■ betr.: "Berlin - eine Hauptstadt im Wartestand" von Raul Gersson, taz vom 2.10.90

betr.: »Berlin — eine Hauptstadt im Wartestand« von Raul Gersson, taz vom 2.10.90

Es ist doch nicht zu fassen: Da starrten große Teile der linken und alternativen Szene zwölf Monate wie gelämt auf die deutsche Vereinigung, und nun glaubt man anscheinend, sich an die Spitze des Zuges stellen zu müssen, der für Berlin als Regierungssitz plädiert. Vielleicht, damit man überhaupt mal wieder eine Position besetzt?

Sehen wir einmal auf die alte BRD: Jedem ist klar, daß die (unfreiwillige) Westverschiebung nach dem Krieg insgesamt positiv für ihre Entwicklung gewesen ist; der Ballast »Osten« und damit die enorme soziale, wirtschaftliche und kulturelle Zerrissenheit des alten Deutschland fiel weg. Was blieb, war lediglich der Mythos »Osten«, den zuletzt nicht einmal die Rechte mehr ernst nahm.

Nun haben wir eine neue Ostverschiebung; die Argumente für das zusätzliche, übereilte Zurückverschieben des Regierungssitzes sind doch wohl sehr hohl: Berlin könne die Kosten für den Ausbau der Verkehrsnetze nicht »aus eigener Kraft« tragen. Nun, keine westdeutsche Stadt kann das. Ohne Regierungssitz kein Aufwachen der Stadt aus dem Dornröschenschlaf? Daimler-Benz ist auch so gekommen, und es werden noch (zu) viele folgen. Die Parlamentarier säßen hier »so richtig mitten im Leben«? Durch abgesperrte Straßen rasende Limousinen mit hinter Gardinchen verborgenen SED-Bonzen haben wir doch Jahrzehnte beim Blick über die Mauer sehen können. Oder glaubt irgend jemand etwa, Herr Kohl (oder wer auch immer) ginge morgens vor Dienstbeginn schnell noch bei »Plus« um die Ecke einkaufen?

Den DDR-Bürgern möge man nicht den Rest ihrer Identität rauben? Wir hätten massiv handeln müssen, als wirklich noch etwas von dieser Identität zu retten war, nämlich in den vergangenen zehn Monaten. Im übrigen bezweifle ich, daß Identität irgend etwas mit »Regierungssitz« zu tun hat. Unsere Identität liegt ja auch nicht in Bonn.

Kein Zweifel: (West-)Berlin war eine »Insel der Seligen«, auch für Linke und Alternative, die um sich selber rotierten und nun unsanft aufgewacht sind. Kein Zweifel auch: Berlin muß eine moderne Hauptstadt werden und den Nimbus von »hier ist die Zeit stehengeblieben« abschütteln. Allerdings liegt die Chance Berlins darin, jetzt die einmalige Möglichkeit zu haben, mit Bedacht geplant zusammenzuwachsen und Teile der Lebensqualität zu bewahren, die anderen europäischen Metropolen verlorengegangen sind.

Dazu braucht die Stadt Hilfe — die sie auch bekommen wird —, aber ganz bestimmt nicht Regierungssitzfunktion. Diese würde die Stadt zum Moloch machen und die Gefahr einer neuerlichen Verpreußung und Verödung der (neuen) BRD mit sich bringen. Und darauf sollten wir verzichten. Robert Golinski, Berlin 61

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