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Unheimliche Nachbarn

■ Danièle Dubroux verfilmt Kierkegaards „Tagebuch eines Verführers“ (Forum)

Im Allgemeinen sind nationale Vorurteile zwar idiotisch. Im Besonderen allerdings, bei der Auswahl der Sachen, die man sich bei der Berlinale anschauen möchte zum Beispiel, können sie recht hilfreich sein. Kubanische Filme sind also stets äußerst lebendig, lustig, turbulent und farbenfroh, osteuropäische eher traurig, deutsche Komödien sollte man auf jeden Fall vermeiden.

Wäre Kierkegaard's „Tagebuch des Verführers“ von einem hiesigen Regisseur verfilmt worden, wäre alles ganz furchtbar und dummblöd geworden. Glücklicherweise bearbeitete Danièle Dubroux, die zwölf Jahre als Redakteurin der „Cahiers du Cinma“ gearbeitet hatte, das bekannteste Werk des melancholiekranken Begründers der Existenzphilosophie. Ihre recht freie Adaption ist eine philosophische Komödie, die an die besten Filme Eric Rohmers erinnert. Unaufdringlich klare Bilder, schöne Inneneinrichtungen, interessante Schauspieler, verwirrende Ereignisse, eine sehr schöne Sprache – was will man mehr.

Die Geschichte, die Dubroux ins Paris der Gegenwart verlegt hat, ist um einiges komplizierter, als die der Romanvorlage: Claire Conti (Chiara Mastroianni), eine junge Psychologiestudentin, findet zufällig eine alte Ausgabe des Kierkegaardbuches. Das Buch gehört Grégoire (Melvil Popaud), einem scheuen Philosophiestudenten mit romantischen, schwarzen Locken. Nach der Lektüre verliebt sich Claire in den hübschen Studenten und besucht ihn häufig in dessen geheimnisvoller alter Wohnung, die er mit seiner seltsamen Großmutter teilt. Grégoire scheint nichts von ihr wissen zu wollen.

Ausdrücklich als Verführer versucht sich dagegen Sébastien (Mathieu Amalric), eine Art liebevoller Persiflage des kierkegaardschen Helden. Der schüchtern in sich gekehrte junge Mann ist der beste Freund von Claire und lebt bei ihr und Anne, ihrer Mutter (Danièle Dubroux). Obgleich er nicht so genau weiß, ob er nun Männer oder Frauen begehren soll, versucht er mit raffinierten Strategien, Claire zu umgarnen. Rührend umwirbt er die Mutter, um die Tochter für sich zu gewinnen. Seine vermeintlichen Fortschritte notiert er in einem Tagebuch, das Anne irgendwann findet. Außerdem gibt es noch Hubert (Hubert Saint Macary), den Psychoanalytiker von Claire, Robert, einen ziemlich unheimlichen alten Nachbarn, der ebenso wie Hugo (Jean-Pierre Léaud), ein durchgedrehter Literaturprofessor, unsterblich in die Großmutter von Grégoire verliebt ist. Sex gibt es wie bei Kierkegaard, der nie mit einer Frau schlief, natürlich nicht.

Mit großer Eleganz behandelt „das Tagebuch des Verführers“ philosophische, also Liebesfragen; leichtfüßig spielt der Film mit der Psychoanalyse und allerlei avancierten Texttheorien. Detlef Kuhlbrodt

„Das Tagebuch des Verführers“, Frankreich 1995, 95 Min, Regie: Danièle Dubroux

Heute um 17.15 Uhr in der Akademie der Künste

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