: Ungewißheit nach dem Wahlsieg der Islamisten in Algerien
Die „Islamische Heilsfront“ FIS gewann auch bei den Frauen viele Stimmen/ „Ob FIS oder FLN — ihre Programme sind alle gleich“ ■ Aus Algier Walter Kamalutti
Am Freitag, dem islamischen Feiertag, war zur Zeit der Gebetsstunde die Wahl nach dem ersten Wahlgang vom 26. Dezember bereits entschieden: Die islamisch-fundamentalistische FIS (Islamische Heilsfront) hat 188 der 430 Parlamentssitze bereits fix in der Tasche.
Daß sie im zweiten Wahlgang am 16. Januar genügend Sitze zur absoluten Mehrheit erhalten wird, daran zweifelt niemand. Aus der Moschee am Stadtrand von Constantine, einer Hochburg der Islamisten, dröhnt der Freudengesang: „...für dich leben wir, für dich sterben wir, für dich ziehen wir in den heiligen Krieg!“ Gemeint ist die islamische Revolution.
Wahldebakel für die Regierungspartei
An die 60 Parteien hatten vom neuentstandenen Pluralismus profitiert und sich an den Wahlen beteiligt. Noch vor der ehemaligen Nummer eins, der Regierungspartei FLN (Nationale Befreiungsfront), landete die linke FFS (Front des Forces Socialistes) des kabylischen Nationalisten Ait Ahmed, der sich bereits 1963 von der FLN getrennt hatte: 25 Sitze errang die FFS, vor allem in der Kabylei.
Den AlgerierInnen sind die Toten von 1988 noch gut in Erinnerung, als die FLN-Regierung Panzer auf den Straßen auffahren und Soldaten in die Demonstrationen der Jugendlichen schießen ließ, die Brot und Arbeit, später auch Demokratie forderten. Und auch der Armee-Einsatz im Juni 1991, als die Islamisten zum Generalstreik aufriefen, empörte viele, die nicht mit der FIS sympathisieren. Korruption, Bürokratie, Vetternwirtschaft, das sind die Begriffe, die von befragten AlgerierInnen im Zusammenhang mit der FLN genannt werden. Die Wahlen präsentierten der Regierungspartei die Rechnung: nur 15 Parlamentssitze errang sie im ersten Wahlgang.
Spekulationen über die Durchführung der Wahlen hatten die letzten Wochen geprägt. Die FIS war intern zerstritten über die Frage der Teilnahme an den Wahlen, ihre AnhängerInnen hatten unter der Losung: „Islamischer Staat ohne Wahlen“ Massendemonstrationen durchgeführt. Präsident Chadli Bendjedid, dem laut Verfassung praktisch die Alleinherrschaft garantiert ist, brauchte diese Wahlen, um sich demokratisch legitimieren zu können; Zugeständnisse an streikende Angestellte sollten den Wahltermin garantieren. Auch in der FIS setzten sich letztendlich diejenigen Kräfte durch, die für die Beteiligung an den Parlamentswahlen optierten.
Daß die Wahlen „sauber“ abgelaufen sind, daran zweifelt kaum jemand in Algerien. Zwar war es eine komplizierte Prozedur, ins Wahlregister eingetragen zu werden, und auch die alphabetische Reihung der KandidatInnen machte den Wahlvorgang nicht einfach: Schließlich sind über 53 Prozent der AlgerierInnen AnalphabetInnen. Noch gibt es keine offiziellen Angaben, aber über 40 Prozent der Wahlberechtigten haben entweder ungültig gewählt oder sind den Urnen überhaupt ferngeblieben.
Viele Frauen stimmten für die Islamisten
„Ob FIS oder FLN oder FFS“, resümierte eine Gewerkschaftsaktivistin in Algier am Wahltag, „ihre Wirtschaftsprogramme sind alle gleich.“ In der Tat hat die FLN-Regierung noch in den letzten Monaten mit ihrem Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds die wirtschaftspolitischen Weichen gestellt, die keine der größeren Parteien korrigieren wollte.
„Der IWF verlangt das Ende des staatlichen Außenhandelsmonopols, beschert uns die Preiserhöhungen, weil Subventionen gestrichen werden müssen“, sagt Chawki Salhi, Sprecher der linken „Sozialistischen Arbeiterpartei“, die in ganz Algerien gerade ein paar tausend Stimmen erzielte. Kurz nach den Wahlen beeilte sich der Spitzenkandidat der FIS, Abdelkader Haschami, festzustellen, daß eine FIS-Regierung zu den Abkommen mit dem IWF stehen werde.
Gerade die FIS hatte aus diesen Sorgen und der Unzufriedenheit im Alltag ihre Lawine an WählerInnenstimmen angehäuft. Schon bei den Kommunalwahlen im Juni 1990 war es den Islamisten gelungen, mit Versprechen nach gerechter Wasserverteilung, Arbeit für die Jugendlichen und einer gerechten islamischen Gesellschaftsordnung gewaltige Stimmengewinne zu erzielen. FIS-Führer Haschami präsentierte im Fernsehen seine Vision zur Lösung der Gesellschaftsprobleme: Die Frauen gehören ins Haus, damit die Jugend wieder Arbeit findet. Das Volk müsse „erzogen werden“, dazu gehören denn auch „Bekleidungs- und Essensvorschriften“.
Die Rede Abdelkader Haschamis machte vielen Frauen Angst. Schon in den letzten Monaten, besonders aber im Sommer des vergangenen Jahres, hatten Islamisten nicht davor zurückgeschreckt, Gewalt anzuwenden, um „das Volk zu erziehen“. Paare, die umschlungen herumspazierten, wurden attackiert, Studentinnen, die politisch aktiv waren, wurden verprügelt, alleinlebende Frauen von aufgehetzten NachbarInnen terrorisiert.
Was aber hat Frauen bewogen, für die FIS zu stimmen? Denn ohne Zweifel haben sich massenhaft Frauen an den Wahlen beteiligt. Selbst die FIS, die eigentlich die Ansicht vertritt, der Ehemann oder der Vater könne für die Frauen beziehungsweise die Tochter zur Wahl gehen, rief die Frauen auf, „dieses Mal“ ihr Wahlrecht auszuüben.
Die umstrittenen Vorschriften bei der Bekleidung und der Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses sind für die einen ein krasser Rückschritt. Für unzählige Algerierinnen aber ist der Alltag bereits jetzt voller Grenzen und Einschränkungen. Für viele arme Frauen stellt der „hidschab“, der traditionelle Schleier, eine Möglichkeit dar, ihre Armut unsichtbarer zu machen: Friseur, modische Kleidungsstücke, Kosmetika werden nicht gebraucht.
Und wo ist die Einschränkung, fragen sich Frauen auf dem Land und in den Elendsvierteln der Städte, wenn wir nicht zur Arbeit gehen sollen? Wir haben ohnehin keine, und die FIS verspricht Löhne für Hausfrauen!
„Eine seltsame Gesellschaft“
Oppositionelle demokratische Parteien finden es beunruhigend, wie schnell sich Europa mit den Islamisten arrangiert. Frankreichs Präsident Mitterrand zögerte erst, gab nun aber zu verstehen, daß Frankreich mit einer FIS-Regierung kooperieren werde. Die internationalen Kapitalinstitutionen hätten im Falle einer FIS-Regierung den Bonus, daß eine starke Gewerkschaftsbewegung am Entstehen gehindert würde. War die Einheitsgewerkschaft bisher ein linientreues Organ der FLN, so kommt eine eigenständige Arbeiterbewegung im ideologischen Konzept der Islamisten ebensowenig vor. „Die FIS ist eine seltsame Gesellschaft“, überlegt die befragte Gewerkschaftsaktivistin aus Algier. „An der Spitze stehen reiche Geschäftsmänner, ihre WählerInnen und ihre AktivistInnen sind die Deklassierten dieser Gesellschaft.“
Die FFS verbreitete drei Tage nach den Parlamentswahlen einen Aufruf an alle „demokratischen Kräfte“ im Land, am 2. Januar in Algier für die Erhaltung der Demokratie zu demonstrieren. Zugleich erscheinen wieder einmal beunruhigende Meldungen in den Zeitungen: Fundamentalisten hätten Polizisten oder Polizeieinrichtungen mit Waffengewalt angegriffen, Bilder eines durchsiebten Polizeiautos auf den Titelseiten. Ein- und Ausfahrtstraßen aus Algier werden von Polizeieinheiten kontrolliert. Beobachter fragen sich, ob hier nicht Provokationen geplant werden, um gegen die FIS vorgehen zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen