Ungeklärte Morde an Migranten: Die Stille nach den Schüssen
In Neukölln wurden zwei junge Migranten erschossen. Die Familien klagen die Ermittler an, rassistischen Motiven unzureichend nachzugehen.
Bektas gibt am Montag mit ihren Anwälten eine Pressekonferenz, ihre erste. Die 43-jährige Altenpflegerin, in den 80er Jahren mit ihrem Mann aus der Türkei nach Berlin gekommen, legt ihren schwarzen Mantel nicht ab, knetet ihre Hände auf dem Schoß. Sie sitzt im Haus der Bundespressekonferenz, mitten im Berliner Regierungsviertel. Der Ort ist bewusst gewählt. Denn Bektas’ Worte sind nicht mehr nur Verzweiflung. Sie sind auch eine Anklage – gegen den deutschen Staat.
Warum nur findet dieser Staat nicht den Mörder ihres Sohnes? Weil er nicht genug nach rechts ermittelt? Trotz der NSU-Katastrophe?
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Berlin-Neukölln, 5. April 2012. Burak Bektas, ein offener, sportlicher 22-Jähriger, will nach seinem Feierabend bei der KfZ-Händlerausbildung, nach dem Abendbrot zu Hause, nochmal nach draußen, sich mit Freunden treffen. Die Bektas wohnen in einem Reihenhaus im Süden Neukölln, wie es viele hier gibt. Es ist eine beschauliche Gegend, nicht so rau und multikulti wie im bekannten Norden.
Mit vier Freunden steht Burak an einer Straßenecke: Seltunc, Ömer, Jamal, Alex. Sie plaudern, lachen. Dann tritt ein älterer Mann in dunkler Jacke an sie heran, zieht unvermittelt eine Pistole, feuert in die Runde – und verschwindet wortlos. Jamal und Alex werden schwer verletzt. Burak auch, er stirbt 45 Minuten später im Krankenhaus. Vom Täter fehlt bis heute jede Spur.
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Neben Melek Bektas sitzen am Montag Philip und Rita Holland, ein Ehepaar aus Manchester, beide Rentner, eigens eingeflogen für den Pressetermin. Sie halten ihre Hände, wischen sich Tränen aus den Augen. Auch ihr Sohn Luke wurde in Neukölln ermordet, auch hier ist das Motiv bis heute rätselhaft.
Rita Holland hält ein Foto in die Kameras. Es zeigt die Eltern, stolz lächelnd, nach der Abschlussfeier ihres Sohnes an der Oxford-Universität. Luke trägt schwarzen Anzug, hat den Arm um seine Mutter gelegt. „Unser Sohn war so talentiert, so beliebt“, sagt Rita Holland, sie zittert. „Er hätte der Welt noch so viel geben können.“
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Berlin-Neukölln, 20. September 2015. Luke Holland, 31 Jahre, vor einem Jahr nach Berlin gekommen, um sich hier als Anwalt selbständig zu machen, besucht in den Nachtstunden eine kleine Bar, das „Del Rex“. Das Publikum ist international, an den Wänden hängt Kunst. Kurz nachdem Holland das Lokal verlässt, findet ihn ein weiterer Besucher blutend auf dem Gehweg. Er sieht noch den Täter mit einer Schrotflinte weggehen, ruhigen Schrittes. Luke Holland ist mit einem Bauchausschuss verletzt. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.
Noch am folgenden Abend wird Rolf Z. verhaftet, ein kauziger Typ, 62 Jahre alt. Er wohnt nur 50 Meter weiter. Laut dem „Del Rex“-Betreiber war Rolf Z. mehrmals in seiner Kneipe, auch am Tatabend. Da habe er sich beschwert, dass dort niemand deutsch spreche. Rolf Z. schweigt bis heute.
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Wortlos hatte auch der „Nationalsozialistische Untergrund“ getötet. Zehn Menschen erschossen die Rechtsterroristen, neun von ihnen waren Migranten. „Taten statt Worte“ erkoren sie zu ihrem Leitspruch, nie hinterließen sie ein Bekennerschreiben. Fast 14 Jahre lebten die Mörder unerkannt in Sachsen. Die Opfer aber wussten die Morde zu lesen: Nach jeder Tat verstärkte sich die Angst in der migrantischen Community. Die Neonazis entschlüsselten die Morde ebenfalls. „Döner-Killer“ nannte die Band ein Lied, mit dem sie die Taten verherrlichte – noch bevor der NSU bekanntwurde.
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Mehmet Daimagüler ergreift das Mikrofon auf dem Podium in Berlin. Er ist der Anwalt der Familie Bektas. Und er vertritt auch beim laufenden NSU-Prozess in München die Familien zweier Opfer. „Das Tatmuster im Fall Burak Bektas erinnert doch frappierend an den NSU“, sagt Daimagüler. Der Migrationshintergrund der Getöteten, die scheinbar willkürliche Opferauswahl, das wortlose Morden.
Aber wieder, klagt Daimagüler, werde ein rechtsextremes Motiv nur oberflächlich geprüft. In den Akten fänden sich keine Erkenntnisse des Verfassungsschutzes, Neonazis seien als Tatverdächtige kaum überprüft worden, außerhalb Berlins gar nicht. „Was genau wurde hier aus dem NSU gelernt?“, fragt Daimagüler. „Wird wirklich in alle Richtungen ermittelt? Das Gefühl haben wir leider nicht.“
Dabei wohnen im Süden Neuköllns auch bekannte Neonazis, gab es hier rechte Übergriffe, wurde ein linker Jugendclub mehrmals angezündet. Seit dem Tod von Burak Bektas demonstriert eine Initiative jeden Monat, um an den Mord zu erinnern – und die Ermittler zu mahnen, ein rassistisches Motiv mitzuprüfen. „Unser Eindruck leider ist“, sagt Ulrich Schmidt, einer der Organisationen, „dass die Familie Bektas nicht die gleiche Zuwendung bekommt wie biodeutsche Familien“.
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Als sich der NSU 2011 enttarnte, war der Schock groß. Angela Merkel versprach, das Land werde „alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann“. Ein Untersuchungsausschuss im Bundestag erarbeitete 47 Konsequenzen. Bei migrantischen Gewaltopfern müsse künftig immer ein rassistisches Motiv geprüft werden, heißt es dort. „Eingefahrene Denkmuster“ in den Ermittlungen müssten verlassen werden. Polizisten dürften ihren Blick nicht „örtlich verengen“, sondern müssten auch bundesweit agierende, rechte Netzwerke einbeziehen.
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92 Prozent der Tötungsdelikte in Berlin werden aufgeklärt. Der Fall Burak Bektas ist einer der wenigen, der seit 2012 ungelöst bleibt. „Wir haben die Empfindung, dass die Polizei nicht mehr ordnungsgemäß ermittelt“, sagt Melek Bektas am Montag.
Auch Rita Holland glaubt an ein politisches Motiv für den Mord an ihrem Sohn. „Er wurde erschossen, weil er englisch sprach.“ Und auch sie klagt über die Ermittler. Fast nichts würden sie über den Festgenommenen Rolf Z. erfahren. Die Ermittler hätten nicht einmal gewusst, dass ihr Sohn Anwalt war.
Und noch ein Verdacht plagt die Familien: Hängen die beiden Taten zusammen? Dafür sprechen die Tatausführung, die Hinweise auf einen älteren Täter, der Tatort Neukölln. Tatsächlich hatte ein Hinweisgeber Rolf Z. auch im Fall Burak Bektas als möglichen Täter benannt: Dieser habe Waffen zu Hause und mal gesagt, er gehe gerne ballern – in der Nähe des Ortes, an dem Burak Bektas erschossen wurde. Zudem soll in der Wohnung von Rolf Z. ein Bild von Adolf Hitler gehangen haben.
Ist er der Mörder von Burak Bektas? Und, fragt Philip Holland, hätte man ihn früher überprüft, hätte das vielleicht den Mord an seinem Sohn verhindert?
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Martin Steltner, Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, nennt die Kritik an den Ermittlungen im Fall Burak Bektas „grob unfair“. „Wir tun bis heute alles Mögliche, um den Mord doch noch aufzuklären.“ 15.000 Euro habe man ausgelobt für Hinweise auf den Täter. Aber es gebe so wenig Ansatzpunkte. Der Mörder handelte wortlos, die Täterbeschreibung sei mehr als vage. Auch ein politisches Motiv habe man geprüft, versichert Steltner. „Es gibt keine Anhaltspunkte dafür.“ Genauso wenig habe eine Überprüfung von Rolf Z. ergeben. „Wir gehen allem nach“, sagt Steltner.
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Melek Bektas hat den Glauben an die Berliner Staatsanwaltschaft verloren. „Wir wollen, dass bundesweit nach dem Mörder ermittelt wird.“ Ihr Anwalt Daimagüler fordert, dass die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe den Fall an sich zieht, die oberste Ermittlungsbehörde des Landes. Das kann sie bei Fällen mit „besonderer Bedeutung“ für die Sicherheit der Bundesrepublik tun.
Daimagüler sieht genau diesen Fall gegeben. „Der Mord an Burak Bektas hat längst diese Bedeutung, weil nicht auszuschließen ist, dass es eine rechtsextreme Tat war, vielleicht gar eine NSU-Nachahmertat. Und weil er erneut die türkischstämmige Community verunsichert, die die Ermittlungen genau verfolgt.“
Für Melek Bektas ist der Vorstoß eine der letzten Hoffnungen, dass vielleicht doch noch der Mörder ihres Sohnes gefunden wird. Die Bundesanwaltschaft aber schweigt am Montag. Eine Anfrage, ob sie den Fall der Familie übernimmt, beantwortet sie nicht.
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