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Ungarns Schutzmacht packt die Koffer

■ Die Sowjetunion soll zum einseitigen Abzug ihrer Truppen aus Ungarn bereit sein

Wird sich der Warschauer Pakt gerade in seiner Geburtsstadt auflösen? Vieles deutet darauf hin, daß Gorbatschow einen Abzug der Roten Armee aus Ungarn ankündigen wird. Wenn es sich auch nur um maximal 65.000 Mann handelt - für Ungarn, in das die UdSSR 1956 einmarschierte, hat die Geste mehr als nur Symbolwert.

Nach Berichten des amerikanischen Geheimdienstes CIA wird Gorbatschow möglicherweise seine Truppen aus Ungarn teilweise oder gar ganz abziehen. Die Magyaren wären dann ihre „Besatzer“, die 1956 ins Land kamen, um den damaligen Arbeiteraufstand niederzuschlagen, endlich los. So meldete es die 'New York Times‘ in ihrer Ausgabe vom Wochenende. Die Namen der Informanten wollte das Blatt nicht nennen, aber „seriös sei es“, so der Wiener Korrespondent der Zeitung zur taz.

Gestern herrschte in der Bundeshauptstadt Sommerruhe, weder dpa noch ein Politiker mochten sich zu dem Bericht der 'New York Times‘ äußern. Umso reger diskutierte man am Wochende die „Enthüllungen “ in Budapest. Ein Sprecher des CIA-nahen Außenposten „Radio Free Europe“ in München erklärte, wer sich genauestens informieren möchte, der solle einfach Radio Budapest einschalten. taz: „Ihr neuer Konkurrenzsender?“ Kurzes Lachen: „Kann man diesmal schon sagen.“

In der Tat waren die Ungarn, die Michail Gorbatschows Vorschlag in erster Linie betreffen würde, durch ihre Fernseh- und Rundfunkprogramme, in die sie sichlive einschalten konnten, bestens über den Stand der Geheimniskrämerei informiert. Am Freitagabend hatte der Leiter der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten des ZK der ungarischen KP, Geza Kotai, erklärt, daß „in absehbarer Zukunft“ der Rückzug der in Ungarn stationierten Truppen nicht auszuschließen sei. Kotai erinnerte an den sowjetischen Vorschlag, bis zum Jahr 2000 alle fremden Truppen aus West- und Osteuropa abzuziehen und betonte, daß „diese Absicht der Sowjetunion sich mit den Bemühungen Ungarns deckt, unter den ersten Ländern zu sein, die eine solche Maßnahme betreffen würde“.

Eventuell könnte, so erklärte Kotai, auch die ungarische Armee selbst von dem Truppenabbau betroffen sein. Kotai hatte schon im vergangenen Monat auf einer Konferenz in Potsdam die Vermutung geäußert, daß Ungarn zu „einem Experimentierfeld für die Abrüstung“ werden könnte.

Prompt meldete sich auch das US-Außenministerium zu Wort und teilte am Freitag unter Berufung auf Geheimdienstberichte mit, daß Moskau einen baldigen Abzug zumindest einen Teil ihrer auf 65.000 Mann geschätzten Truppen abzuziehen plane. Parteichef Gorbatschow habe, so ein hoher Mitarbeiter des State Department, die übrigen Mitglieder des Warschauer Pakts wahrscheinlich bereits über diese Pläne informiert.

Als die Ungarn dann am nächsten Samstagmorgen neugierig ihre Zeitungen aufschlugen, wurden sie wieder fündig. Das Parteiorgan 'Nepszabadsag‘ veröffentlichte ein Interview mit dem Außenminister Ferenc Karpati. Der Minister war gerade von einem Treffen der Verteidigungsminister des Warschauer Pakts in Moskau zurückgekehrt und zitierte Gorbatschow mit den Worten, daß im Pakt die Betonung auf der Qualität und nicht der Quantität liegen müsse. Dies könnte ein Hinweis auf einen einseitigen Truppenabbau der Sowjetunion als Vorleistung in den Verhandlungen mit den USA sein. Karpati betonte allerdings - ebenso wie zur gleichen Zeit in Prag der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Ryschkow -, daß ein Truppenabbau beidseitig sein müsse.

Der Experte für Abrüstung der sowjetischen Parteiführung, General G. Batenin, deutete an, daß Gorbatschow auf der Gipfelkonferenz des Warschauer Paktes am 15./16.Juli in der polnischen Hauptstadt einen neuen Vorschlag im Bereich der konventionellen Abrüstung unterbreiten könnte. Auf einer Pressekonferenz am Freitag abend in Warschau sagte der General, es sei möglich, daß Gorbatschow einen „Vorschlag in dieser Richtung macht“. Einzelheiten wollte er nicht nennen.

Weshalb diese Offenlegung, bevor sie Gorbatschow vermutlich bei dem Gipfeltreffen des Paktes am Wochenende in Warschau, verkünden wird? Zum einen sicherlich, um der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, daß die US -Geheimdienste trotz aller Skandale und auch unter Glasnost -Bedingungen noch voll operationsfähig sind. Zum anderen aber, so schreibt die 'New York Times‘, um die „westeuropäischen Verbündeten, allen voran die Bundesrepublik, vorzubereiten“. Denn zu oft hätte der sowjetische Parteichef die Nato-Partner mit seinen Abrüstungsvorschlägen überrascht. So habe man nicht schnell genug reagieren können. Diesmal nicht, diesmal reagierte Washington schon im voraus: „Wir werden einen solchen Beschluß des Warschauer Paktes begrüßen“, hieß es in einer Presseerklärung des State Department.

Doch auch nach einem sowjetischen Truppenabzug bleibe ein Übergewicht des Warschauer Pakts im konventionellen Bereich gegenüber der Nato. An den entscheidenden Stellen in der DDR und der CSSR, wo die Truppen des Warschauer Pakts konzentriert sind, würde sich durch einen solchen Abzug nichts ändern, und die NATO-Einheiten seien ohnehin zahlenmäßig schwächer, wird in Washington argumentiert. Nach amerikanischen Angaben hat die Sowjetunion in Ungarn unter anderem vier Panzerdivisionen, Luftwaffeneinheiten und Nachschubtruppen stationiert. Das US-Außenministerium ermutigte in der Erklärung die UdSSR, doch gleich alle ihre Truppen aus Ungarn abzuziehen, da dies eine Überprüfung erleichtern würde. Das ist wohl wahr.

Roland Hofwiler

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