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Umwälzung auf baltische Art

Das ZK der lettischen KP tilgt die „Führungsrolle“ der Partei aus der Verfassung  ■ K O M M E N T A R

Mit einem subtilen begrifflichen Unterscheidungsvermögen, das einer besseren Sache Wert gewesen wäre, ist seit den Tagen des Prager Frühlings an der „führenden Rolle“ der kommunistischen Partei gefeilt worden. Die Reformer wollten, daß sie inspirierend wirken sollte, nicht kommandierend, daß sie nur über verfassungsmäßige Organe wahrgenommen werden solle und nicht in der pathologischen Form von Telefonanrufen usw. Die letzte - ungarische Verteidigungslinie wollte die „führende Rolle“ innerhalb einer Koalition gleichberechtigter Reformkräfte situieren. Mit der Wahl Mazowieckis zum polnischen Premier ist für Ostmitteleuropa die ganze Konstruktion praktisch wie theoretisch in die Brüche gegangen.

Die Absicht des ZKs der lettischen kommunistischen Partei, die „führende Rolle“ aus der Verfassung zu streichen, transponiert die Umwälzungen in Ostmitteleuropa auf die baltischen Staaten. Die „führende Rolle“ der Partei war dort der Garant dafür gewesen, daß die als sozialistische Revolution interpretierte Zwangsintegration der baltischen Staaten in den Sowjetverband irreversibel sein sollte unumkehrbar wie der gesamte historische Prozeß zum Sozialismus hin. Wenn verfassungsmäßig auf die „führende Rolle“ verzichtet wird, räumen die lettischen Kommunisten ein, daß eine offene Situation auch hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts des lettischen Volks besteht.

Die Verfassung einer zukünftigen sowjetischen Union müßte dann damit rechnen, daß ihr Republiken angehören, die nicht mehr dem Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus folgen. Sie müßte das Wort „sozialistisch“ im Namen der UdSSR ferner so definieren, daß selbst das von den Völkern des Baltikums favorisierte „schwedische Modell“ noch ein Plätzchen fände. Soll das Imperium nicht in eine äußerst gefährliche Krise geraten, muß über die künftige Gestalt der sowjetischen Föderation ohne ideologisches Netz debattiert werden. Daß die Gedanken der amerikanischen Gründerväter in den „Federalist Papers“ jetzt zu Rate gezogen werden, zeigt die Tiefe des Umbruchs.

Christian Semler

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