Ein Haus aus Stein, davor fliegen Tauben auf

Das alte Dschidda im Jahr 2019: Holzfenster und Backsteine statt Glas und Beton Foto: Lucas Jackson/reuters

Umbau und Abrisse in Saudi-Arabien:Die Unerwünschten

Saudi-Arabien baut die Großstadt Dschidda radikal um. Weichen müssen dafür vor allem migrantische Viertel – mit weitreichenden Folgen für die Bewohner.

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19.10.2022, 12:15  Uhr

Im März beginnt Ahmeds Familie zu packen; sie zieht zurück nach Pakistan. Er habe Schuldgefühle, sagt er damals. „Meine Tochter hört nicht auf zu weinen. Sie liebt Dschidda sehr.“ Ahmed, der seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen will, stammt aus Pakistan. Fast zwei Jahrzehnte lebte er in der saudischen Großstadt, wo er im Finanzsektor arbeitete.

Seine 15-jährige Tochter wurde dort geboren – eine andere Heimat kennt sie nicht. Doch auf dem Papier sind sie Pakistani, die saudische Staatsbürgerschaft hat keiner der Familie. Damit sind sie nicht allein: Fast 40 Prozent der Einwohner des Königreichs haben keinen saudischen Pass – denn das Land vergibt im Normalfall keine Staatsbürgerschaften.

Wer – meist aus Südasien oder arabisch-sprachigen Ländern – dorthin zieht, gilt als ausländische Arbeitskraft. Und von denen wird erwartet, dass sie das Land wieder verlassen, sobald ihr Vertrag ausläuft.

In manchen Industriezweigen dürfen nur noch Saudis arbeiten, Ausländer, die ihre Familien zu sich nachholen, müssen eine zusätzliche Steuer zahlen – politische Maßnahmen, die es Migrierenden immer schwerer machen, im Land Fuß zu fassen.

Ein neues Stadtzentrum für Dschidda

„Viele Leute, die ich kenne, mussten bereits zurück in ihre Heimatländer, aber ich habe es bisher immer geschafft“, so Ahmed. „Meine Tochter ist hier aufgewachsen, hat all ihre Freunde hier. Das wollte ich ihr nie nehmen.“ Mittlerweile haben auch sie das Königreich verlassen.

Im Frühling wurde die Familie zwangsgeräumt. Eine neue Wohnung kostete fast das Doppelte, die Mieten sind in den letzten Jahren stark gestiegen. In Dschidda zu leben, so Ahmed, sei nicht mehr tragbar.

Das Viertel der Familie gehört zu den 63 Bezirken, die in Dschidda – der zweitgrößten Stadt Saudi-Arabiens – einer umfassenden Initiative zur Stadtsanierung weichen müssen. Nach Angaben der Stadtverwaltung steht das in Einklang mit der „Vision 2030“ – ein Projekt, das Wirtschaft und Gesellschaft des Königreichs modernisieren soll. Kronprinz Mohammed bin Salman brachte im Dezember 2021 einen Sanierungsplan für Dschidda auf den Weg.

Das Projekt ist etwa 75 Milliarden Saudische Rial – über 20 Milliarden Euro – schwer. Im neuen Stadtzentrum sollen sich ein Opernhaus, ein Museum, ein Sportstadion, ein Sandstrand und ein Jachthafen befinden. Um das zu ermöglichen, werden mindestens eine halbe Million Menschen – viele davon Nichtsaudis wie Ahmed und seine Familie – vertrieben.

Die zu räumenden Bezirke seien unterentwickelt
Auf dem Gelände der großen Moschee beten weiß-gekleidete Pilger

Ein Grund, warum Dschidda migrantisch geprägt ist: Es liegt nahe Mekka, Ziel muslimischer Pilgernder Foto: rtr

Berechnungen des Institute for Gulf Affairs zufolge wurde allein bis März 2022 bereits eine Fläche von 169 Quadratmeilen (umgerechnet etwa 437 Quadratkilometer) abgerissen – darunter Wohnhäuser, Schulen, Moscheen und Krankenhäuser.

Die Stadtverwaltung beharrt darauf, dass die zu räumenden Bezirke eine unterentwickelte Infrastruktur und eine große Zahl illegaler Siedlungen aufwiesen. Saleh Al-Turki, Bürgermeister von Dschidda, betonte, dass die Vision 2030 darauf abziele, die Lebensqualität, insbesondere in den – wie er sie nannte – „Slums“, zu verbessern. Dem saudischen Fernsehen sagte er: „Es mangelt an Sicherheit, es gibt keine Baupläne, Infrastruktur ist kaum vorhanden, es ist eine Brutstätte der Kriminalität.“ Ahmed ist anderer Meinung: „Mein Viertel war extrem sicher und ein Zuhause für angesehene Leute.“

Im Februar berichtete die taz, dass ihr ein Dokument der Stadtverwaltung vorliege. Darin sind 63 Viertel aufgelistet, die bis Ende des Jahres abgerissen werden sollen. Es belegte auch, dass die Kündigungsfrist für die Bewohnenden sehr kurz ist. Manche seien erst informiert worden, als die Abrissarbeiten bereits begonnen hatten.

Sie sind vor allem von Migrierenden bewohnt, viele von ihnen sind älter und weisen entsprechende Infrastruktur auf. Andere, wie Asharifiya, wo Ahmed lebte, sind mit der Zeit gewachsen, alte und neue Gebäude wechseln sich ab.

Die Zukunft vieler ist ungewiss

Bilal, ein Techniker aus Bangladesch, der nur seinen Vornamen nennen will, erzählt, er sei im Januar darüber informiert worden, dass er einen Monat Zeit habe, eine neue Wohnung zu finden. Schon vor Ablauf der Frist wurden ihm Wasser und Strom abgestellt. Er zog zu seinem Cousin, ins Viertel Aziziya, auch bekannt als „Little Pakistan“, doch die Zukunft ist für beide ungewiss. Aziziya steht ebenfalls auf der Liste der abzureißenden Gebiete.

Aisha, 17 Jahre alt, somalischer Herkunft, hat ihr ganzes Leben in einem der „Slums“ verbracht. Im Frühling wurde dieser abgerissen. Sie ist in Dschidda geboren, Migrantin in zweiter Generation – und hat keine Aufenthaltsgenehmigung.

„Meine beiden Großväter kamen in den 1960er Jahren für die Pilgerreise nach Mekka hierher und beschlossen dann, hier zu bleiben. Sie brachten ihre Frauen mit und gründeten eigene kleine Unternehmen“, erzählt sie. Nach Somalia zurück wollte keiner der Familie.

Mohammed Bin Salman

Der Kopf hinter der „Vision 2030“: Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammad Bin Salman Foto: Andrej Isakovic/reuters

Damals sei die Situation in Saudi-Arabien eine andere gewesen: „Es zogen viele Menschen hierher, niemand kümmerte sich darum, ob man einen Pass oder eine Iqama hatte, also machten sie sich nicht die Mühe, einen zu bekommen.“ Die Iqama ist der saudische Aufenthaltstitel.

Dschidda ist ein Tor für Pilgernde

Aishas Großeltern waren nicht allein. Millionen Menschen leben ohne Papiere in Saudi-Arabien. Die meisten haben ihre Wurzeln in Südasien, Ostafrika und ärmeren arabischen Ländern wie dem Jemen und leben in der Region Mekka, in der auch Dschidda liegt. Die Hafenstadt ist seit Jahrhunderten ein Tor für Pilgernde, die oftmals auf unbestimmte Zeit blieben, statt in ihre Heimatländer zurückzukehren.

Auch nach der Gründung des saudischen Staates im Jahr 1932 blieben die Einwanderungsgesetze locker – bis die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft Saudi-Arabien zu der Regionalmacht erhoben, die es heute ist.

„Meine Großeltern haben mir erzählt, dass es damals nichts gab hier. Sie gehören zu der Generation, die Saudi-Arabien zu dem gemacht hat, was es ist“, sagt Aisha. Das Land habe damals jeden willkommen geheißen. „Man konnte in einem Büro in der Nähe des Flughafens einen saudischen Pass für 20 bis 25 Saudische Rial kaufen“, berichtet sie. Nie hätte ihre Familie geglaubt, eines Tages nachweisen zu müssen, dass sie das Recht habe, dort zu leben.

Aishas Familie hat Angst, abgeschoben zu werden

In einer Studie schreibt Hi­sham Mortada, Professor an der King Abdulaziz University in Dschidda: Das schnelle Bevölkerungswachstum der Stadt habe in den 1970er Jahren begonnen – während des Ölbooms in Saudi-Arabien. In den folgenden Jahrzehnten habe die Bevölkerung weiter zugenommen, die staatlichen Mittel jedoch nicht Schritt gehalten. Eine Folge: Einige ältere Viertel – wie das von Aisha – seien nie weiterentwickelt worden.

Rassismus und eine feindliche Stimmung gegenüber Migranten hätten mit den Jahren ebenso zugenommen, auch die Abschiebung Tausender ohne Papiere – darunter auch einige von Aishas Verwandten, die Dschidda ihr Zuhause nannten.

„Mein Cousin wurde zurück nach Somalia abgeschoben“, sagt Aisha. „Er war noch nie in Somalia. Auch seine Eltern kennen das Land nicht.“ In den letzten Jahren hat sich Aishas Familie aus Angst vor einer Abschiebung immer seltener aus dem Haus getraut und noch seltener aus ihrem Viertel hinaus.

Als die Benachrichtigung über die anstehende Räumung kam, zog die fünfköpfige Familie bei einem Verwandten ein. Als Papierlose eine Unterkunft zu finden sei schwierig, sagt Aisha. „Die meisten Menschen in unserem alten Viertel hatten keine Papiere, mein Vater kannte den Vermieter seit seiner Kindheit. Keine Ahnung, was jetzt passieren wird und wie wir uns das leisten sollen.“

Entschädigungen nur für saudische Bürger

„Wir haben kein Dach über dem Kopf, keine Schule, die wir besuchen können, und jeden Tag Angst davor, in ein Land abgeschoben zu werden, von dem wir nichts wissen. Saudi-Arabien hat eines Tages plötzlich beschlossen, dass wir nicht willkommen sind, und seitdem steht unser Leben auf dem Kopf“.

Finanzielle Entschädigungen für den Abbruch ihrer Eigenheime erhalten nur Saudis. Diejenigen, die im Besitz von Eigentumsurkunden sind, können über ein Online-Portal einen Antrag auf Entschädigung stellen. Das Land hat zwar angekündigt, dass Betroffene auch ohne gültige Eigentumsurkunden eine Entschädigung erhalten könnten und die Fälle derzeit geprüft würden – doch das ist ein Entgegenkommen, das nur für saudische Staatsbürger gilt.

Al-Turki hatte – nachdem Bürger ihrem Unmut Luft machten – außerdem angekündigt, man werde eine mögliche Reorganisation der Viertel, statt eines Abbruchs, prüfen. Das gelte aber nur für Stadtteile, die mehrheitlich von Saudis bewohnt würden.

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