: Umarme deinen Feind
Auch nach der Sommerpause steht der deutsche Fußball vor der zentralen Frage: Kurve oder Kapital? Unser Autor hält eine friedliche Koexistenz für möglich. Inklusive einmal jährlich Bayern hassen.
Von Christian Prechtl↓
Geplant war eigentlich, nach der Sommerpause, nach Kurzurlaub und Kopfleerung mal eine Weile nichts mehr über den VfB Stuttgart zu schreiben. Die Mannschaft hat die Klasse gehalten, spielt weiter in der Bundesliga, im Team scheint es zu stimmen, die sportliche Führung konzentriert und super solide, Transferphase im Sommer auch ok, und die einstmals verfeindeten Gremien in Verein und AG veröffentlichen Kuschelbilder ihrer höchst harmonischen gemeinsamen Klausur in Ludwigsburg. Daran ändert auch nichts, dass Thomas Hitzlsperger seinen im Herbst 2022 auslaufenden Vertrag nicht verlängern will.
Außerdem liegen auch mehr als genug echte Aufreger-Themen rum, vor allem abseits des Sports. Überall die Dinge im Argen, Virus, Krieg, Klima, Migration, und dann auch noch Bundestagswahl, die Wahlentscheidung bereitet zusätzliche Bauchschmerzen. Wer ist diesmal das kleinere Übel?
Was die Personalien angeht, so ist zumindest beim weltgrößten Sportverband, dem Deutschen Fußball Bund, die Lage ähnlich katastrophal wie in der großen Politik. Peter Peters und Rainer Koch, die beiden Hauptkombattanten um das Amt des Präsidenten, sind in Sachen Soziopathentum allemal auf Augenhöhe mit unseren Entscheiderinnen und Entscheidern in der Politik. Passt aber irgendwie zur langen Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel, die das Land über die Jahre in eine eher ungute Mittelmäßigkeit geführt hat – genauso wie der späte Bundestrainer Löw, der ohne nennenswerten Widerstand die Nationalmannschaft über mehrere Turniere vom Gipfel bis hinunter in die Ebene trainieren durfte, aus der sich Hansi Flick nun anschickt, die Truppe wieder nach oben zu führen. Dem Land der Seehofers, Scheuers und Klöckners würde es ja auch gut zu Gesicht stehen, ausgerechnet in Katar 2022 den Weltmeistertitel zu holen – bei der Weihnachts-WM, die keine(r) will.
Und wo ich grade den Bogen weiter nach Europa spannen will, zu Ursula von der Leyen und ihrer parlamentarischen Supertruppe, wo ich also grade drauf und dran war, in meiner Verzweiflung mich über Dinge lustig zu machen, die alles andere als lustig sind – da kommt der geschätzte Kollege Benjamin Hofmann vom „kicker“ Sportmagazin mit einem Sittengemälde in Buchform in den Handel, das die Vergangenheit eines bekannten Fußballclubs seit 2007 nachzeichnet und in seinem zuspitzend verkürzten Titel gleichzeitig das Grundproblem des deutschen Fußballs benennt: „Kapital oder Kurve?“ Der bekannte Fußballclub ist der VfB Stuttgart.
Liest sich locker weg für alle, die der Kabalen und Intrigen des an anderer Stelle „House of Stuttgarts“ genannten VfB nicht längst überdrüssig geworden sind und sich genauso wie ich über die mittlerweile eingekehrte Ruhe und Solidität freuen. Gleichwohl hat die Titelfrage auch in der aktuellen Saison weit über den VfB hinaus allgemeine Gültigkeit. Wohin will der Fußball? Zum Kapital oder zur Kurve? In einer wie auch immer gearteten Tradition verharren oder sich ungehemmt den Profit-suchenden Investoren vollends hingeben?
Dazu habe ich Folgendes zu sagen: Wenn die Proficlubs, oder doch zumindest einige, noch viel mehr Geld bekommen, dann heißt das nicht, dass die damit auch richtig umgehen können. Schalke hatte immer genug Geld, der HSV, der VfB – und wohin hat es geführt? Wir müssen uns also gar nicht vollends dem Kapital hingeben. Andererseits müssen wir aber auch nicht allzu laut rumheulen wegen fehlender Tradition. Denn vor allem die Traditionsclubs sind es, die an sich selbst gescheitert sind und jetzt in der zweiten Liga spielen oder noch tiefer. Sollen die Bayern doch weiterhin Meister werden – solange sie einmal im Jahr vorbeikommen, solange wir sie einmal im Jahr besonders hassen können, alles gut.
Ernsthaft: Wir sollten aufhören, immer im Entweder-Oder-Modus zu denken. Nicht Kapital oder Kurve, sondern Kapital und Kurve ist möglich. Wie ein gerne zitierter chinesischer Kriegsherr umarmen die Kurvenleute ihren Feind, das Kapital. Und andersrum.
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