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KOMMENTARÜberfälliger Neuanfang

■ Gewerkschaften müssen sich der Nazi-Schuld stellen

In Zehntausenden von Zügen wurden die europäischen Juden ostwärts in den Tod gefahren — die Führerhäuschen besetzt mit deutschen Eisenbahnern, die von alldem nichts bemerken wollten. In deutschen Fabriken schufteten Millionen von verschleppten Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen — den deutschen Arbeitern blieb dies verborgen. Die Deportationslisten, die Akten für die Nachlaßverwaltung und die Ausbürgerung der zum Tode bestimmten Deutschen gingen durch Tausende von Bürokratenhänden — vom systematischen Morden haben sie nichts mitbekommen. Diesen Eindruck muß man jedenfalls bei Berichten aus dem deutschen Arbeitsleben der Nazizeit gewinnen. Auch die Gewerkschaften haben bisher wenig dazu beigetragen, diese Vergangenheit aufzuhellen. Zu verlockend war die Gelegenheit, sich auf die Seite der moralischen Sieger zu schlagen. Auf die von den Nazis zerschlagene Arbeiterbewegung hinweisend, mit der selbsterteilten Absolution vom Schwarzen Loch, konnte man die Schuldfrage umgehen: Die Nazis sind immer die anderen gewesen. Die Gewerkschaften reklamierten lieber das Strahlebild des antifaschistischen Kampfes der Arbeiterklasse für sich. Dabei war eine solche Strategie nur eine Facette in der deutschen Verdrängungsstrategie.

Das setzte sich fort. Von außen kommende Initiativen, beispielsweise in Großbetrieben auf die mörderischen Profite der Unternehmen im »Dritten Reich« hinzuweisen, konnten oft nicht mit dem Wohlwollen der Betriebsräte rechnen. Die Konferenz der ÖTV in der Wannseevilla, dem Ort, der für kleinteilig organisiertes, systematisches und bürokratisch korrektes Morden steht, ist deshalb ein Neuanfang. Es ist eine neue Dimension der Verantwortung, auch den Verwaltungsunterbau, all die subalternen Befehlsempfänger als Teil einer Terrorherrschaft anzuerkennen. Auch deswegen hat diese Veranstaltung so lange auf sich warten lassen. Gerd Nowakowski

Siehe auch Seiten 6 und 22

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