: Über die Ziellinie
Einen Fernsehdolmetscher bemerkt man oft nicht. Aber Jürgen Stähle übersetzt so unauffällig, daß er nun einen Preis dafür kriegt ■ Von Carsten Otte
Als Mika Häkkinen Anfang der Woche in Stuttgarts alter Reithalle beschrieb, wie sein Körper auf die 800 Pferdestärken seines Silberpfeils reagiere, war das Publikum sehr froh, daß die englischen Statements des Formel-1-Weltmeisters übersetzt wurden. „Unser Dolmetscher ist auch ein Champion“, trompetete Jürgen Offenbach von den Stuttgarter Nachrichten, der zu dem Promi-Plausch eingeladen hatte. Fotografen und Filmteams belagerten tatsächlich nicht nur den smarten Rennfahrer. Sie hatten sich auch vor der unscheinbaren Übersetzerkabine postiert. Dort drin saß einer, dessen bekannte Stimme plötzlich auch ein Gesicht erhalten hat. In der „Tagesschau“ war am Abend zuvor verkündet worden: Der Simultandolmetscher Jürgen Stähle werde am heutigen Freitag mit dem begehrten goldenen Adolf-Grimme- Preis ausgezelchnet.
Vor dem Auftritt hat sich Stähle über die sprachlichen Eigenheiten des Rennfahrers informiert. Nach wenigen Minuten schon plaudert auch er im Formel-1-Jargon. Während Stähle dolmetscht, gestikuliert, grimassiert er und lächelt ins Mikro. Mika Häkkinen gibt ein wirklich tolles Formel-1-Gesetz zum besten, geschwind übersetzt Stähle: „Wer gewinnen will, muß erst mal über die Ziellinie fahren.“ Stähle gewinnt. Sein Können bietet ihm jedem Augenblick einen kleinen Sieg. So lebendig und nur mit wenigen Sekunden Zeitverzug transportiert er Häkkinens Geschichten ins Deutsche, daß man fast vergißt, daß da ein Übersetzer am Werke ist. „Es geht nicht um das bloße Umkodieren von Wörtern. Dolmetschen bedeutet, Gedanken und Inhalte in einer anderen Sprache zu vermitteln“, sagt Stähle. Weil er sich keine Stichworte macht, wirkt die freie Rede, die sich penibel an die Vorlagen hält, doch noch freier.
Seit fast dreißig Jahren fährt der heute 49jährige Mann aus Recklinghausen nun als Dolmetscher um die Welt. Bei acht Olympischen Spielen war er dabei. ARD und ZDF sowie der Kultursender Arte, wo oft in deutsch und französisch durcheinanderparliert wird, engagieren ihn für die schwierigsten Aufgaben in Talkshows und Diskussionsrunden: In „Willemsens Woche“ dolmetschte er den russischen Schachweltmeister Garri Kasparow genauso wie Harry Belafonte oder Lenny Krawitz. „Stähle gelang es bis in den Habitus des Gastes hinein, dessen Charaktermaske sprachlich zu reproduzieren“, schwärmt Willemsen, „solches Vermögen ist sehr rar und kostbar in einem Fernsehen, dem die internationalen Gespräche bald völlig fehlen werden.“
Willy Brandt und Lothar Späth begleitete er jahrelang auf den Dienstreisen. Einmal sollte er Arafat und Brandt dolmetschen, in einem Beiruter Bunker, der unter Beschuß stand. Das hat er aber abgelehnt. Manchmal denke er sogar daran, in der Politik mitzumischen, erzählt er. Das Wort „Beschlußlage“ könne er allerdings nicht ausstehen, daher bleibe er besser Dolmetscher, und für den gelte: „Was einem aus der Seele spricht, übersetzt man häufig ungenauer als die Rede eines Politikers, mit der man nichts anfangen kann.“
Stähles Arbteitstag beginnt mit fünf deutschen, englischen und französischen Zeitungen. Wörter, die er noch nicht kennt, werden notiert und abgespeichert. Im Computer und im Kopf. Vor allem in seinem Spezialgebiet: Zahlreiche medizinische Fachbücher hat er übersetzt. „Meine Arbeitssprachen sind Deutsch, Englisch und Französisch. Man hört immer von Leuten, die sieben Sprachen sprechen. Ich habe kaum jemand getroffen, der zwei Sprachen beherrscht.“ Er selbst könne sich „wohl auch im Italienischen und Spanischen ganz gut ausdrücken.“
Jürgen Stähle ist passionierter Perfektionist. Was er nicht mag: „Wenn fürs Büfett mehr Geld ausgegeben wird als für einen guten Übersetzer.“ Nicht überall werde das seriöse Dolmetscherhandwerk so geschätzt. Der Grimme-Preis, für den ihn eine Jury aus Fernsehkritikern bestimmt hat, belohne nun endlich die Übersetzerarbeit der vielen Kollegen.
„Später vielleicht werde ich nach mittelalterlicher Sitte zwei, drei Leute um mich scharen, um sie richtig auszubilden“, überlegt Stähle. Denen könnte er dann beibringen, wie man deutsche Redensarten vernünftig ins Französische transformiert. Meckere ein Deutscher, erzählt Stähle, „du hast mir die Suppe eingebrockt, nun mußt du sie auch auslöffeln“, so heiße es bei den Franzosen: „Le vin est tiré, il faut le boire“ – ist der Wein gezapft, so wird er auch getrunken. Wenn Jürgen Stähle mal nicht dolmetscht, was selten vorkommt, beschäftigt er sich übrigens mit Weinen. Etwa mit alten und sehr alten Trockenbeerenauslesen von der Mosel.
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