: Über die Geisterstadt herrschen jugendliche Kämpfer
■ In Kuwait-City hat sich das Leben noch längst nicht normalisiert: In einer Kulisse der Zerstörung häufen sich Berichte von irakischen Greueltaten
Das scharfe Knallen von Pistolen- und Gewehrfeuer füllte in Kuwait auch Tage nach dem Ende des offenen Krieges immer noch die Luft, von früh morgens bis spät in die Nacht. In einem von Palästinensern bewohnten Stadtteil rennt ein nicht einmal 20jähriger Kuwaiter mit einem kleinen Revolver durch die Gegend; ein paar Straßen weiter feuern aufgeregte Jugendliche mit Schnellfeuerwaffen in die Luft; im Stadtteil Salmiya fällt eine Gruppe von Berwaffneten in ein Wohnhaus ein: Auf der Suche nach versteckten Irakern brechen sie reihenweise Türen ein und stellen Wohnräume, auch von einigen philippinische Familien, auf den Kopf. Zwei Männer werden abgeführt, verdächtigt, Iraker zu sein oder zumindest Kollaborateure.
In Kuwait-City haben nicht mehr die Militärs das Sagen — nach dem Zusammenbruch des irakischen Systems wie der zivilen Stadtverwaltung herrschen hier die bewaffneten Widerstandskämpfer. „Ich habe wirklich Angst“, so ein höherer Offizier der kuwaitischen Armee. „Jetzt haben wir hier den Widerstand, und jeder hat eine Waffe. Wenn irgend etwas passiert, dann gibt es wieder Krieg.“ Nach dem fluchtartigen Rückzug der irakischen Besatzungstruppen, die einen großen Teil ihrer militärischen Ausrüstung zurückgelassen haben, gibt es keinen Mangel an Waffen in der Stadt. Noch wird die Hauptstadt faktisch von jugendlichen Mitgliedern des Widerstands regiert. Sie kontrollieren die Straßen, sie rasen mit riesigen amerikanischen Wagen umher, durch Viertel, die in weiten Teilen zerstört sind, vorbei an Ruinen, aus denen immer noch Flammen und Rauch schlagen.
Seit Donnerstag kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen in der Stadt, vor allem gegen die palästinensische Bevölkerung. Vom fernen Saudi-Arabien aus hat der jetzt nominell wieder herrschende Emir zwar den Ausnahmezustand verkündet. Aber weder er, noch sein Regierungschef, noch der amerikanische Oberbefehlshaber am Golf, Schwarzkopf, waren bis Freitag nachmittag in dem Emirat aufgetaucht. In der Zentrale der Polizei von Kuwait-City haben Führer des Widerstands die Kontrolle übernommen. Sie stehen, so heißt es, in Kontakt mit der Exilregierung im saudischen Taif.
Am Donnerstag wurden zwei bewaffnete Wachmänner der palästinensischen Botschaft in der Hauptstadt erschossen; Gewehrfeuer drang auch aus einer Schule und von einem Polizeiposten im Palästinenserviertel: Die PLO und ihre Leute hatten sich auf die Seite Saddam Husseins geschlagen. Stimmen in der Stadt behaupten, palästinensische Kämpfer seien gemeinsam mit irakischen Soldaten im Einsatz gewesen. Ein kuwaitischer Offizier glaubt, es seien immer noch hunderte von Irakern in der Stadt versteckt. Seit dem Abzug der Besatzer wurden bereits mehrere hundert Iraker und eine unbestimmte Zahl von angeblichen Kollaborateuren von Widerstandskämpfern festgesetzt. Tatsächliche oder angebliche Widerstandskämpfer hatte während der siebenmonatigen Okkupation besonders hart unter dem brutalen Regime der Besatzer zu leiden — hunderte von ihnen wurden geschlagen, verschleppt, gefoltert, getötet. Jetzt ist für sie die Stunde der Abrechnung gekommen. „Sie verstehen warum wir das tun müssen: Meine Frau ist nicht mehr da...", so ein Widerstandskämpfer, der sich nur als Hauptmann Ali vorstellt. Irakische Soldaten, so Ali, rammten vor einige Monaten sein Auto in voller Fahrt: Seine beiden kleinen Töchter kamen in Intensivbehandlung, seine Frau aber ließ ein irakischer Sanitäter verbluten.
Berichte über die Gewalttaten irakischer Soldaten kann fast jeder auf den Straßen geben. „Manchmal sitze ich allein da und kann über alles das, was hier passiert ist, nur noch weinen", sagte Kalid Shalawi, Chefarzt des Mubarak-Hospitals, des größten in der Hauptstadt. „Es ist viel schlimmer als die Leute denken." Der Arzt hat über 250 Opfer von Folter und Exekutionen gezählt, die allein in sein Krankenhaus gebracht wurden. Viele Familien hätten die Opfer aber einfach begraben, die deren Schlächter zur Abschreckung vor die Häuser geworfen hätten. Shalawi berichtet von einem Kollegen, Dr. Isham Obedad, der von den Irakern verdächtigt worden war, Soldaten während der Behandlung vergiftet zu haben. Er wurde gefoltert, die Fingernägel wurde ihm ausgerissen, seine Haut durch Zigaretten verbrannt. Auch seine Leiche landete vor der Tür des Wohnhauses seiner Familie.
Die schlimmsten Folteropfer waren Menschen, denen die Besatzer vorwarfen, zur Guerilla zu gehören: Ihnen seien die Augen ausgestochen worden, man hätte sie mit Säure verbrannt oder ihnen die Ohren abgeschnitten. Die Geheimpolizei, so der Arzt Baroon aus dem Al-Amiri- Krankenhaus, hätte die geschundenen Körper oft einfach in den Flur des Krankenhauses geworfen. Auf die Frage, warum die Geheimpolizei manche Schwerverletzte behandelt sehen wollte, antwortete Baroon: „Sie wollten mehr Informationen.“
Bei dem überhasteten Rückzug der irakischen Truppen aus Kuwait- City schleppten die Soldaten nach übereinstimmenden Zeugenberichten zahlreiche Menschen offenbar als Geiseln mit. Schätzungen gehen von mindestens 5.000 gekidnappten Kuwaitern aus. Führer des kuwaitischen Widerstands sprechen von bis zu 20.000 verschleppten Menschen.
Die, die sich retten konnten, leben in einer Kulisse der Zerstörung. In der bis zum August durch schreienden Reichtum geprägten Stadt herrscht Öde. Auf den Autobahnen spielen Kinder an ausgebrannten Panzern. Die Leute trauen sich nicht auf die Bürgersteige, weil sie versteckte Minen fürchten. Nur die Straßen seien sicher, heißt es. Trotzdem gibt es bereits zahlreiche Minenopfer; immer wieder werden entdeckte Minen zur Sprengung gebracht. „Mittlerweile haben wir uns auch an diese Explosionen gewöhnt“, sagt eine junge Frau. Noch immer sind fast alle Geschäfte geschlossen, Strom und Wasser fehlen weiterhin. Und die wenigen Autos fahren schon am frühen Nachmittag mit Scheinwerferlicht durch die Geisterstadt: Der Himmel ist verhangen mit tiefen schwarzen Rauchwolken, die über den brennenden Ölquellen aufsteigen. wps, Kuwait-City/ar
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen