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Die Ägyptologin Tote Sprachen haben Verena Lepper schon in der Schulzeit fasziniert. Heute erforscht sie im Neuen Museum alte Schriften. Das Alte Ägypten umfasse viel mehr als nur Mumien und Pyramiden, sagt sie. Ihr aktuelles Projekt führt auf die Insel Elephantine. Ein Gespräch über Geschichte und Entmystifizierung„Über Texte sprechen die Ägypter zu uns – durch Poesie oder Verträge“

„Der Papyrus Westcar ist ein Highlight des Museums, eine Sammlung von Zaubergeschichten, die von Pharaonen früherer Tage erzählen“, sagt Verena Lepper, die Kuratorin der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums

Interview Claudius PrößerFotos Piero Chiussi

taz: Frau Lepper, hier im Neuen Museum haben Sie uns in der Ausstellung den „Papyrus Westcar“ gezeigt. Laien sehen da ein stark vergilbtes längliches Blatt, das eng mit einer Art Hieroglyphen beschrieben ist, an den Rändern teils stark beschädigt. Sie sagen, dieser 3.300 Jahre alte Text, über den Sie promoviert haben, habe eine bemerkenswerte literarische Qualität. Sogar humorvoll soll er sein.

Verena Lepper: Der Papyrus ist ein Highlight des Museums, eine Sammlung von Zaubergeschichten, die von Pharaonen früherer Tage erzählen. Eine davon geht so: Der Pharao hat Langeweile, er schreitet durch den Palast und „findet keine Kühlung für sein Herz“, wie es im Text heißt. Da rät ihm sein Vorlesepriester: Lass ein paar hübsche Damen kommen, die ihre Kleider ablegen, Netze überstreifen und über den Palastsee rudern, das wird dich erfreuen. So geschieht es, aber dann fällt einer der Frauen ein Amulett ins Wasser, und sie rudert nicht weiter. Der Pharao reagiert völlig hilflos – der Text macht sich da regelrecht lustig über diese Respektfigur. Dann vollbringt der Priester ein Wunder: Er türmt die eine Hälfte des Wassers über die andere, man findet das Amulett, gibt es der Ruderin zurück, und alle sind zufrieden.

Das erinnert doch stark an Moses und das Rote Meer. Wer hatte die Idee zuerst?

Eindeutig beantworten kann ich das nicht, weil das Alter der Thora nicht bekannt ist. Auch wenn sie von Ereignissen berichtet, die viel früher stattgefunden haben sollen, stammen die ältesten bekannten Handschriften aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert. Der Westcar-Papyrus datiert von 1.700 vor Christus – insofern glaube ich: Diese Erzählung ist älter. Bei der Schrift handelt sich übrigens um Hieratisch, eine Hieroglyphen-Kursivschrift, die vom Alten Reich bis in römische Zeit verwendet wurde.

Wann haben Sie die Faszination der toten Sprachen entdeckt?

Die haben mich schon in der Schule begeistert. Ich habe in Aachen, der Stadt Karls des Großen, ein humanistisches Gymnasium besucht, wo ich Latein, Altgriechisch und Hebräisch lernen konnte. Hier haben mich insbesondere eine Geschichtslehrerin und mein Hebräischlehrer nachhaltig inspiriert. Ich wollte mehr über die Ursprünge der menschlichen Hochkulturen und ihres Umfelds erfahren. Studiert habe ich dann Ägyptologie, Semitistik und Wissenschaft vom Christlichen ­Orient. Oft höre ich „Ach, Ägypten – Mumien und Pyramiden!“, und die Forschung daran ist natürlich genauso wichtig. Aber mein persönlicher Zugang ist über die Texte, da die Ägypter direkt zu uns sprechen. Sei es durch Poe­sie, durch Verträge, durch reli­giö­se oder literarische Texte. Ich habe auch Sprachen und Schriften der Nachbarkulturen gelernt, das von den Juden verwendete Aramäisch, die Keilschrift, und für die Dokumente aus der Zeit nach Christus ebenso Koptisch und Arabisch.

Kann man eigentlich ansatzweise erahnen, wie das alte Ägyptisch geklungen hat?

Die letzte Entwicklungsstufe des Altägyptischen ist das Koptische – Ägyptisch mit griechischen Buchstaben geschrieben –, das die christliche Minderheit in Ägypten heute noch als liturgische Sprache verwendet – übrigens auch in einer Gemeinde in Berlin. Aber natürlich ist sehr, sehr viel Zeit vergangen. Wenn Sie einen Altägypter heute zum Leben erwecken könnten, klänge dessen Sprache wohl vollkommen anders. Eine Herausforderung beim Lesen der altägyptischen Texte besteht auch darin, dass keine Vokale notiert wurden. Wir können zwar deren Position ermitteln, aber über die Aussprache sagt das noch nichts. In heutiger Zeit wird die nachträgliche Vokalisierung zum Teil recht uneinheitlich gehandhabt, deswegen heißt etwa die Gemahlin des Echnaton im Deutschen Nofretete und im Englischen Nefertiti.

Lassen Sie uns über Ihr aktuelles Projekt reden, für das Ihnen der Europäische Forschungsrat ERC 1,5 Millionen Euro für fünf Jahre bewilligt hat. Sie erforschen die sogenannten Elephantine-Papyri im Bestand des Ägyptischen Museums. Die wurden Anfang des 20. Jahrhunderts auf der gleichnamigen Nilinsel bei Assuan ausgegraben.

Genaugenommen kamen Objekte aus Elephantine schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Europa. Reisende haben sie in Ägypten aufgekauft und nach Europa weiterverkauft, an Privatpersonen, aber auch schon an Museen und Sammlungen. Das waren insbesondere aramäische Dokumente der jüdischen Gemeinde, die rund 100 Jahre lang im 5. vorchristlichen Jahrhundert auf Elephantine gelebt hat. Richard Lepsius, der Gründervater der deutschen Ägyptologie, hat solche Dokumente bereits erkannt. Im Jahr 1906 haben dann die Königlichen Museen zu Berlin die Archäologen Otto Rubensohn und Friedrich Zucker den Auftrag erteilt, auf Elephantine systematisch nach weiteren Papyri zu graben. Parallel gruben auch die Franzosen, das war ein regelrechter Wettstreit.

Was ist denn an Elephantine so besonders?

Diese kleine Insel an der Südgrenze Ägyptens zum antiken Nubien, dem modernen Sudan, ist der einzige Ort in Ägypten, an dem eine über viertausendjährige Kulturgeschichte nicht nur archäologisch, sondern auch durch Textquellen belegt ist, vom Alten Reich bis weit in die arabische Periode hinein. Das ist ein großer Glücksfall und ein Alleinstellungsmerkmal, vermutlich sogar weltweit. Über diesen Zeitraum hinweg sind zehn verschiedene Sprachen und Schriften auf der Insel dokumentiert. Fremdvölker haben über Ägypten geherrscht und ihre Sprachen mitgebracht, die ägyptische Sprache selbst hat sich weiterentwickelt. All das können wir in einer Art Mikrokosmos beobachten.

Verena Lepper

Der Mensch: Verena Lepper 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Ägyptologie, Semitistik sowie Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients in Bonn, Köln, Tübingen und Oxford. Ihr Promotionsstudium absolvierte sie in Bonn und Harvard. Außer etlichen modernen Sprachen beherrscht sie unter anderem Altgriechisch, Aramäisch, Demotisch, Koptisch, Latein und Ugaritisch.

Die Wissenschaftlerin: Seit 2008 kuratiert Verena Lepper die Papyrussammlung des Ägyptischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin. Sie ist Lehrbeauftragte für Ägyptologie an der Freien Universität und Honorarprofessorin für Ägyptische und Orientalische Papyri und Handschriften an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität.

Die Gründerin: 2013 rief Lepper die Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities (AGYA) ins Leben, in deren Rahmen arabische und deutsche WissenschaftlerInnen interdisziplinär zusammenarbeiten – an Themen wie dem Schutz von Kulturgütern in arabischen Staaten, aber auch der Inklusion von Flüchtlingen. (clp)

Und was erfahren wir da so?

Das fängt an mit dem Rechtsstreit, bei dem sich jemand darüber beschwert, dass die Mauer des Nachbarn zu weit in sein Grundstück hineinragt. Die heutigen Debatten über Vorgartenhecken scheinen schon in der Antike ein Thema gewesen zu sein. Auch Scheidungen oder Erbschaften werden dokumentiert. Da heißt es dann etwa: „Ich verfüge, dass nicht mein Ehemann mein Vermögen erben soll, sondern mein Sohn aus erster Ehe.“ Aus solchen Individualschicksalen können wir beispielsweise viel über die Rolle der Frau in der Gesellschaft ableiten.

Wenn Frauen so etwas bestimmen konnten, muss ihre so­zia­le Stellung stärker gewesen sein, als wir uns das heute so vorstellen.

Man muss da sicherlich differenzieren. Im Laufe der Geschichte hat sich vieles verändert, aber generell gab es in Ägypten immer eine starke Stellung der Frau. Unter den aramäojüdischen Frauen auf der Insel wäre das nach unserem Verständnis der hebräischen Bibel eigentlich kaum möglich gewesen, aber die Dokumente geben Hinweise darauf. Insofern scheint es konkrete Angleichungsmechanismen zwischen den nebeneinander lebenden Kulturen gegeben zu haben. Multikulturalität ist dann auch neben der familiären Organisation und der Entwicklung der Religionen einer unserer Forschungsschwerpunkte.

Worum geht es beim Thema Religion?

Wir wissen bereits, dass Polytheismus und Judentum auf der Insel koexistiert haben, später auch Christentum und Islam. Die engen Boxen, wie wir sie heute gern propagieren, gab es damals offenbar nicht, die religiösen Identitäten waren viel offener füreinander. Dokumentiert ist der Fall eines Mannes, der seinen Namen geändert hat, weil es ein ägyptischer Gottesname war. Er heiratete eine Jüdin und nahm einen jüdischen Namen an. Auch Konversionen gab es also.

Bei der Vorbereitung auf unser Gespräch hat mich überrascht, dass die jüdischen Bewohner von Elephantine einen eigenen Tempel unterhielten.

Richtig: Wenn wir den Texten den Alten Testaments Glauben schenken, dürfte es im 5. vorchristlichen Jahrhundert keinen Jahwe-Tempel außerhalb Jerusalems gegeben haben. Manche Kollegen haben deshalb argumentiert: Das war am Süd­ende Ägyptens, in the middle of nowhere, da hat sich eine Sekte entwickelt. Das ist eine interessante These, aber sie kann sofort widerlegt werden: Wir haben einen Briefwechsel, bei dem der Vorsteher der jüdischen Gemeinde auf Elephantine in Jerusalem anfragt: „Dürfen wir den Tempel bauen?“ Und die dazugehörige Antwort – „Ja, dürft ihr“ –haben wir auch. Erst vor einigen Jahren wurde dieser Tempel archäologisch nachgewiesen, und zwar aufgrund der textlichen Beschreibungen.

Können da noch mehr Dinge an den Tag kommen, mit denen niemand rechnet?

Selbstverständlich, das ist ja das Spannende: Wir müssen unsere Ergebnisse immer relativieren. Geschichte muss immer wieder neu geschrieben werden, weil immer wieder neue Funde gemacht werden. Es geht weniger um das Finden der definitiven Wahrheit als um Plausibilität: Was ist nach jetzigem Kenntnisstand das Wahrscheinlichste? Schon bei der nächsten Grabung oder bei der Öffnung der Kisten in unserem Museum müssen wir mit Neuem rechnen. Und rund 80 Prozent des Elephantine-Materials sind noch nicht erschlossen.

Ist eigentlich umstritten, wem es gehört? Um die Nofretete-Büste schwelt ein langer Streit mit den ägyptischen Antikenbehörden.

„Im Verlauf der Zeit hat sich vieles verändert, aber generell gab es in Ägypten immer eine starke Stellung der Frau“

Nein, überhaupt nicht. Die Papyri, an denen wir forschen, sind durch Grabungen zu uns gekommen, bei denen es formale Fundteilungen gab, wo also geregelt wurde, was in Ägypten blieb und was nach Berlin oder zum Beispiel Paris gebracht wurde. Diese Teilungen sind rechtlich unangefochten. Dadurch, dass wir unsere Ergebnisse und Objekte nun digital nach außen tragen, sorgen wir ja für eine weltweite Partizipation an den Funden.

Damit wären wir bei Ihrer ganz konkreten Arbeit der kommenden Jahre. Wie gehen Sie da vor?

Durch die ERC-Mittel kann ich zehn Wissenschaftler einstellen, um die Papyri restauratorisch und philologisch zu erschließen. Ich habe auch schon ein internationales Team rekrutiert. Im Juli kommt eine Kollegin aus Los Angeles nach Berlin. Sie hat alles stehen und liegen gelassen, um mitzuarbeiten. Spannend ist auch die Beteiligung von Naturwissenschaftlern. Zum Beispiel werden uns ein Physiker und ein Mathematiker dabei helfen, die Papyri, die oft zu kleinen, versiegelten Päckchen gefaltet und sehr fragil sind, mithilfe der Computertomografie virtuell zu entblättern. Alle Ergebnisse kommen am Ende in eine große Online-Datenbank, und die interna­tio­na­le Community ist eingeladen, dieses Material zu nutzen. Im Übrigen schauen wir uns nicht nur die Berliner Bestände an, auch wenn hier ein Fokus liegt. Elephantine-Papyri verteilen sich auf 60 Sammlungen in 24 Ländern, wobei sich die größten Konvolute neben Berlin im Louvre, im Brooklyn-Museum in New York sowie in Kairo und auf der Insel selbst befinden. Letztere stammen etwa aus den aktuellen Grabungen des Deutschen Archäologischen ­Instituts vorort.

Und die anderen Sammlungen ziehen mit?

Ich habe mich unglaublich gefreut, mit welcher Begeisterung die Kollegen sowohl in Paris als auch in New York auf das Projekt reagiert haben. Im Louvre, wo auch etliche Grabungskisten erst noch gesichtet werden müssen, haben wir die Möglichkeit, mit den ERC-Geldern einen Res­tau­ra­tor zu finanzieren, der die Objekte unter Aufsicht entsprechend vorbereiten wird. Und die Museumsleitung in Brooklyn hat uns sogar von sich aus zwei Papierrestauratorinnen an die Hand gegeben. Unsere Papyrusrestauratorin fliegt mit mir im September nach New York und wird an den Stellen, wo die beiden Fachkolleginnen an ihre Grenzen kommen, sozusagen „Amtshilfe“ leisten. Dann werden die Objekte fototechnisch aufgezeichnet und kommen in die Datenbank. Schon jetzt konnten wir in New York „Joints“ identifizieren, also Nahtstellen, bei denen ein Papyrusfragment exakt an ein anderes zum Beispiel in Berlin anschließt.

Verwenden Sie zur Identifizierung solcher zusammengehöriger Fragmente eine Software?

In diesem Fall haben wir das auch so erkannt. Wir kommen bei unserer Arbeit auch heute nicht am menschlichen Auge vorbei. Merkmale wie ein bestimmtes Design, eine bestimmte Handschrift fallen sofort auf, bei religiösen Texten strukturieren vielleicht auch Zeichnungen das Manuskript. Und dann erinnert man sich: Moment, da habe ich doch in Berlin etwas Ähnliches gesehen! Wenn wir das Material jetzt systematisch durchsehen, hoffe ich, dass uns das noch viel öfter gelingt.

Verena Lepper über ihre Arbeit „Wenn Sie einen Altägypter heute zum Leben erwecken könnten, klänge dessen Sprache wohl vollkommen anders. Eine Herausforderung beim Lesen der altägyptischen Texte besteht darin, dass keine Vokale notiert wurden“

Ein richtiges Puzzlespiel.

Wenn Sie so wollen, ja. Übrigens schließen wir auch forschungsgeschichtlich noch Lücken. Im Jahr 1918 gab es eine Grabungskampagne des päpstlichen Bi­bel­instituts in Rom auf Elephantine. Lange Zeit war dies kaum bekannt, nur in einem französischen Journal wurden seinerzeit fünf Seiten darüber publiziert. Inspiriert war diese Kampagne ebenfalls durch die jüdischen Texte. Im Vatikan hat man natürlich gehofft, die Thora zu finden. Allerdings vergeblich, denn obwohl es den Tempel auf Elephantine gab, haben wir bis heute keine Bibeltexte gesichtet. Die Grabungsakte von 1918 galt als verschollen, und trotz mehrfachen Anklopfens bei den Archiven bin ich in den letzten Jahren nicht vorangekommen.

Aber jetzt?

Ich war vor einigen Wochen in Rom und kann vermelden, dass mein Besuch erfolgreich war. Durch die grandiose Unterstützung der jesuitischen Fachkollegen vor Ort konnte ich das Archiv finden, und wir dürfen es auswerten. Es ist sehr umfangreich und enthält Hunderte von Fotos und weitere Unterlagen. Das ist eine kleine Sensation.

Klingt abenteuerlich, fast wie ein Dan-Brown-Roman. Leiden Sie darunter, dass das Alte Ägypten in der Populärkultur dieses Mystery-Image hat?

Also „leiden“ wäre das falsche Wort, aber es gibt natürlich einen großen lack of information. Da stehen die Ägyptologen in der Pflicht, ihre Erkenntnisse auch an ein Laienpublikum weiterzugeben, um diese „Mystifizierung“ ein wenig zu „entmystifizieren“ (lacht). Gerade Museen haben die Chance und die Pflicht, über Ausstellungen, Vorträge und andere Kanäle einen Bildungsauftrag zu erfüllen. Letztlich freue ich mich über jedes Interesse am Alten Ägypten.

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