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US–Geheimpapier entlarvt US–Lügen

■ Mehr Pershing II in Westeuropa stationiert als bisher angegeben / Gegner des Abkommens im US–Senat sehen wenig Chancen, Ratifizierung zu verhindern / Gorbatschow erobert Herzen der Amerikaner / Gespräche über Afghanistan / Experten streiten um Details

Aus Washington Stefan Schaaf

Für Erstaunen quer durch das politische Spektrum Washingtons sorgte die Tatsache, daß ein wichtiger Teil des amerikanisch–sowjetischen Abrüstungsabkommens - das sogenannte „Memorandum of Understanding“ über die Zahl und Standorte der vom INF–Vertrag betroffenen Waffen - nicht veröffentlicht wurde. Das Pentagon begründete dies mit der Furcht vor „terroristischen Anschlägen“ auf diese Orte, ein Argument, das allgemein für wenig überzeugend gehalten wurde. Einer Gruppe Reagan–kritischer Rüstungsexperten ist es jedoch gelungen, den Text zu bekommen, den sie am Morgen auf einer Pressekonferenz präsentierten. Die Details des Memorandums erklären vielleicht, warum es geheim bleiben sollte: die USA hatten mehr Pershing II - nämlich 120 statt 108 - und mehr Cruise Missiles - 309 - in Westeuropa stationiert als bisher öffentlich bekannt war. Gleichzeitig wurde bisher in der Öffentlichkeit mit zu hohen Zahlen für sowjetische Mit telstreckenraketen gearbeitet. Stationiert sind 405 SS–20, nicht 441, und 65 SS–4, nicht 112. Die Zahl der sowjetischen Kurzstreckenraketen der Typen SS–12 und SS–23 liegt dagegen wesentlich höher als bisher angenommen. Im übrigen wurde auch am zweiten Tag des Gipfeltreffens zwischen Reagan und Gorbatschow die professionelle Neugier der Journalisten im Pressezentrum herbe enttäuscht. Außer Gemeinplätzen hatte das offizielle Sprecherduo am Mittag allenfalls die Information zu bieten, daß nicht nur über Rüstungskontrolle, sondern auch über „bilaterale Themen“ und den Krieg im Persischen Golf geredet wurde. Während Gorbatschow sich am Nachmittag bei einem Treffen mit amerikanischen Verlegern und Autoren ein weiteres Mal Kampfreden wegen der Besetzung Afghanistans anhören durfte, begann andernorts der Expertenstreit um die Details des am Vortag unterzeichneten und der Presse übergebenen INF–Vertrags. Wo es den verfügbaren Informationen an Substanz fehlt, wird der Stil umso wichtiger. Gorbatschows Verhalten bestimmt die Schlagzeilen, er beeindruckt mit seiner Offenheit, mit seiner Diskussionsfreude und seiner Direktheit. Ob er dem liberalen Sowjetologen Stephen Cohen eröffnet, er habe dessen Bucharin–Biographie mit großem Interesse gelesen, ob er auf Reagans Anekdoten schlagfertige Antworten liefert oder beim Dinner im Weißen Haus russische Lieder singt - der neue Sowjetführer sticht seine drei greisen Vorgänger um Meilen aus. Beeindruckt von Gorbatschow waren auch die beiden Senatsführer Byrd und Dole, die am Mittwochmorgen gemeinsam mit anderen Abgeordneten mit ihm zusammengetroffen waren. Ursprünglich war eine Rede Gorbatschows vor beiden Kammern des Kongresses geplant gewesen, doch wurde dies von der kleinen, doch lautstarken Riege antisowjetischer Ultras verhindert. Byrd hatte schon am Tag vor dem Zusammentreffen mit Gorbatschow prophezeit, daß der INF–Vertrag ohne große Probleme die Zustimmung des Senats erhalten werde, auch wenn es noch viele Details zu klären gebe. Senator Malcolm Wallop, ein erzkonservativer Republikaner aus Wyoming und einer der Wortführer der Vertragsgegner im Senat, wollte sich auf einer Pressekonferenz am Mittag nicht festlegen, welche Zusätze er gern dem Vertrag anfügen würde. Aus seinen Worten ging hervor, daß die Hardliner weitgehend die Hoffnung aufgegeben haben, das Abkommen direkt zu Fall bringen zu können. Allgemein wird von maximal 25 Nein–Stimmen ausgegangen - das sind neun weniger als notwendig, um eine Zweidrittel–Mehrheit zu verhindern. Dies heißt jedoch nicht, daß die Vertragsgegner die Senatsdebatte um das Abkommen im Frühjahr nicht nutzen werden, um ihren Widerstand gegen den Vertrag publikumswirksam darzubieten. Die wichtigste Frage ist jedoch, ob es einen Kompromiß um das angestrebte START–Abkommen über nukleare Langstreckenraketen gibt, das Gorbatschow nur abschließen will, wenn die USA den ABM–Vertrag einhalten? Für die Sowjetunion ist eine Reduzierung dieser Atomgeschosse nur akzeptabel, wenn das System der gegenseitigen Abschreckung, das 1972 im ABM–Vertrag festgeschrieben wurde, erhalten bleibt. Reagans SDI–Programm steht dieser Doktrin und den Bestimmungen des ABM–Vertrags, der defensive Waffen weitgehend verbietet, diametral entgegen. über diesen Punkt war der Gipfel in Reykjavik vor etwas über einem Jahr gescheitert. Unklar ist auch, ob Gorbatschow definitive Zusagen über einen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan machen wird. Gar nicht erst gestellt wird zumindest in den amerikanischen Medien die Frage, ob Reagan nicht seinerseits ein Ende der Mudjahedin Unterstützung durch die CIA anbieten sollte. Die afghanischen Rebellen erhalten dieses Jahr mehr als 700 Millionen Dollar aus der amerikanischen Staatskasse. Kein Thema ist außerdem Zentralamerika, immer wieder wird dagegen auf das Verlangen nach mehr Ausreisegenehmigungen für sowjetische Juden gepocht.

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