piwik no script img

UND DANN UND WANN EIN WEISSER ELEFANT...

■ Rüsseltiere und andere Vierbeiner im Corbett National Park in Indien

Rüsseltiere und andere Vierbeiner

im Corbett National Park in Indien

VOND.SANNWALD

Als ich ein kleiner Junge war, hatte ich in meinem Zimmer eine Tapete mit Zebras darauf und Elefanten. Die Elefanten mochte ich besonders gerne, und immer, wenn ich nicht einschlafen konnte, starrte ich auf die Tapete und stellte sie mir vor, wie sie majestätisch, würdevoll und gewaltig in ganzen Herden durch den Urwald marschierten.

Delhi ist heiß und stickig. Es ist elf Uhr vormittags, als wir an der Busstation in einem Strudel aus Menschen, Farben, Geräuschen und Gerüchen eintauchen. Zwischen grollenden Bussen, die, urtümlichen Monstern gleich, rücksichtslos ihren Weg durch die Menge bahnen, schieben schreiende Händler ihre Karren hin und her, flitzen flinke Teeverkäufer mit Kessel und Tassengestell vorbei, schnüffeln schmutzige heilige Kühe mit stoischem Gleichmut im Unrat herum. Und während bündel- und kofferbeladene Reisende in unsinniger Hast ein- und aussteigen, kriechen, humpeln und stolpern elende Gestalten bettelnd von Bus zu Bus. Wir geben uns Mühe, nicht unterzugehen in diesem Getümmel, werden aber immer wieder aufgehalten von Pulks gestikulierender Gepäckträger, Schuhputzer oder gar Tagediebe, die mit sicherem Gespür in uns die unerfahrenen Neuankömmlinge erkannt haben. Als wir uns Minuten später schweißnaß und um einige Rupien leichter an den Tresen des Fahrkartenschalters klammern, kommen wir uns vor wie Schiffbrüchige, die um Haaresbreite dem Untergang entrissen sind. Der freundliche Ticketverkäufer lächelt mitleidsvoll, scherzt und zeigt uns den Weg zum Bus, wo wir uns kurz darauf samt unförmiger Bagage erschöpft auf bzw. unter die brettharten Holzsitze quetschen. Eine untätige, schweißtreibende Stunde später setzt sich unser brechend volles Gefährt in Bewegung, um uns unsanft, aber stetig unserem Ziel entgegenzutragen.

Am Abend erreichen wir Ramnagar, die Stadt am Rande der Zivilisation und Ausgangspunkt für Trips in den Corbett National Park. Mit seinen verwitterten Gebäuden und den unbefestigten Straßen, die von abenteuerlich aussehenden Gestalten bevölkert sind, strahlt der Ort den zweifelhaften Charme einer Goldgräbersiedlung aus. Und wirklich: Seine Goldminen sind die nahen Wälder, seine Desperados die Waldarbeiter. Tagein, tagaus verlassen turmhoch mit Baumstämmen beladene uralte Lastwagen die Stadt, deren verkrümmte Skelette bisweilen den Straßenrand säumen, wenn eine rostige Bremsleitung ihren Inhalt verloren oder ein übermüdeter Fahrer die Kurve verfehlt hat.

Wir wähnen uns bereits am Ziel unserer Reise und sind regelrecht konsterniert, als wir im einzigen Restaurant am Ort erfahren, daß es derzeit keine Besuchserlaubnisse für den Nationalpark gebe. Saddajiv, der Besitzer des Lokals, grinst schelmisch, als er hinzufügt, daß es dennoch Mittel und Wege gebe, in den Park zu kommen. Er habe da einen Bekannten... Grimmig nickend zücke ich das Portemonnaie.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr stehen Christa und ich an der Straße und warten auf Saddajiv, der kurze Zeit später in einem klapprigen weißen Ambassador, der indischen Mittelklasselimousine im Nostalgielook, vorfährt. Er ist bester Laune und jagt den alten Wagen mit Vollgas über die Schotterpiste, so daß wir — Opfer ausgeschlagener Stoßdämpfer— wie Schießbudenfiguren auf und ab hüpfen. Nach kurzer Fahrt erreichen wir einen Wachtposten mit Schlagbaum, wo ein Hundert-Rupien-Schein den Besitzer wechselt. Dann geht es mit unvermindertem Tempo weiter. Die Straße ist mittlerweile noch enger und holpriger geworden, und unser Fahrzeug hört sich an, als läge es in den letzten Zügen. Als dann vor uns aus dem Unterholz ein Schakal auftaucht und in wilder Flucht die Straße entlanghetzt, bitten wir Saddajiv, langsamer zu fahren.

Neugierig blicken wir aus den offenen Seitenfenstern und atmen tief die würzige Luft des noch taufeuchten Waldes ein. Im sanften Licht des frühen Morgens sehen wir Hirsche äsen und ganze Affenbanden durch die Kronen gewaltiger Baumriesen toben. Ab und zu begegnet uns ein Pfau, dessen Ruf weithin durch den Urwald schallt und sich mit anderen, fremdartigen Lauten vermischt. Bei der Vorstellung, alleine zu sein und ohne die schützende Blechhaut des Wagens, befällt mich ein leichtes Prickeln in der Magengegend.

In der Nähe einer Wasserstelle läßt Saddajiv dem Ambassador ausrollen und bedeutet uns auszusteigen. Schweigend und ängstlich darauf bedacht, Anschluß zu halten, folgen wir ihm auf einer Art Trampelpfad in den Wald hinein. Die fremdartige Atmosphäre um uns verdichtet sich schlagartig, und mit jedem weiteren Schritt nimmt das Prickeln in meiner Magengrube zu.

Nach etwa hundert Metern, die mir wie Kilometer vorkommen, bleibt Saddajiv abrupt stehen und deutet triumphierend zu Boden. Deutlich zeichnet sich im sandigen Untergrund der Abdruck einer mächtigen Tatze ab. „Tiger!“ murmelt er beschwörend und blickt lauernd um sich, als wir ihn erschrocken ansehen. „Ist noch nicht lange her, höchstens zwei Stunden.“ Aus meinem Magenprickeln ist mittlerweile ein regelrechtes Ziehen geworden, und ich schaue sehnsüchtig zurück zum Auto, das mit einladend geöffneten Türen an der Wasserstelle auf uns wartet. Christa scheint es ähnlich zu gehen. Offenbar wild entschlossen, mich in die (Beschützer-)Pflicht zu nehmen, umklammert sie eisernen Griffes meine rechte Hand. Grinsend fragt Saddajiv, ob wir noch weiter gehen sollen.

Als wir erleichtert den Rückzug antreten, hören wir wohl alle zugleich jenes ferne Krachen im Wald, welches rasch näherzukommen scheint. Wie gelähmt halten Christa und ich in der Bewegung inne, um uns sekundenlang hilfesuchend anzustarren. Dann erst bemerken wir Saddajiv, der unterdessen ins nahe Dickicht abgetaucht ist, aus dem nun sein Kopf und eine heftig winkende Hand hervorragen. Stolpernd folgen wir ihm in das stachelige Gestrüpp, wo wir uns niederkauern und bangen Herzens der Dinge harren, die da mit zunehmendem Getöse auf uns zukommen. „Hati, Elefant!“ flüstert Saddajiv. „Wenn er herauskommt, macht euch ganz klein! Elefanten sehen schlecht.“ Das Geräusch von brechenden Ästen, wenn nicht gar Baumstämmen ist bereits ganz nah, als es plötzlich aussetzt und in die Stille hinein ein Gruß ertönt — „Namaste!“ Ungläubig aufblickend wollen wir unseren Augen nicht trauen: Zwischen den Baumwipfeln schwebt, die Beine im Lotossitz verschränkt, ein älterer Herr mit Hornbrille. Er wackelt vergnügt mit dem Kopf und schwankt dabei sachte hin und her. Und während wir noch sprachlos diese kuriose Erscheinung beäugen, tritt majestätisch, würdevoll und gewaltig sein mobiler Untersatz aus dem Wald hervor, den Rüssel um einen kräftigen Ast geschlungen, den er sich genüßlich kauend ins Maul schiebt. „Das ist ein Reitelefant aus Bijrani“, klärt ein kichernder Saddajiv uns auf. Im Auto folgen wir dann dem vierbeinigen Koloß, dessen Hinterteil haushoch über der Straße schwankt.

Bijrani besteht aus einer Handvoll Hütten, einem im Bau befindlichen „Resthouse“ und einem „Restaurant“, das in unseren Breitengraden wohl eher als Imbißstube firmieren dürfte. Nach dem Essen fragt Saddajiv, ob wir genug hätten von den Gefahren des Dschungels, und fordert uns, nachdem wir vollen Bauches und frischen Mutes verneinen, zu einer Wanderung am nahe gelegenen Flußbett auf.

Nach zweistündigem Marsch unter sengender Sonne entdecken wir tatsächlich in Ufernähe einen einsamen Elefanten und schießen aus sicherer Entfernung begeistert eine Reihe von Fotos. Durch das Teleobjektiv meine ich allerdings jene abgeschabte Stelle an der Stirn auszumachen, wo beim Reittier gewöhnlich die Sattelriemen befestigt werden. Doch der zufrieden lächelnde Saddajiv tut, als würde er meine skeptischen Blicke nicht bemerken. Am späten Nachmittag dann, als die Schatten bereits länger werden und die Sonne ihr erbarmungsloses Regiment allmählich lockert, werden die Reitelefanten gesattelt. Unserer sei bereits einhundert Jahre alt und nahezu blind, erfahren wir von dem Führer, einem wortkargen, alten Mann. Um so erstaunlicher ist die Sicherheit, mit der das mächtige Tier uns dann sanft schaukelnd und stetig sogar steile Hänge hinaufträgt. Wie am Morgen, so liegt auch jetzt wieder ein Zauber über dem tagsüber so stillen Wald, der nun erneut von den geheimnisvollen Lauten seiner unsichtbaren Bewohner erfüllt ist. Hin und wieder gibt es einen dumpfen Schlag, wenn der alte Mann, der vor uns zwischen den lappigen Ohren des Tieres kauert, den schweren Eisenhaken auf das gewaltige Haupt niedersausen läßt, um unseren Dickhäuter anzutreiben.

Wir reiten am Waldrand entlang. Und während wir uns vom Rhythmus der schweren Schritte träge hin und her wiegen lassen, schweift mein Blick verträumt in die Ferne, und ich stelle mir wilde Elefanten vor, wie sie im Licht der untergehenden Sonne herdenweise durch die Ebene ziehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen