: Twist Around The Mogul
Der wilde Freestyle-Ritt über die Schneebuckel („Moguls“): ausgelassene Stimmung wie bei einem eisigen Open-air-Rockkonzert ■ Aus Lillehammer Cornelia Heim
Erst kräht der Hahn, und dann geht die Post ab. Aber wie! Michael Jackson dröhnt aus den Mega-Lautsprechern. Und in den Oberschenkeln schreit der Muskel Hilfe. Das ist nichts für kreuzlahme Schreibtischtäter. Hinein in die Fallinie, rein in die Buckel. Die Knie schnalzen im Rhythmus eines Metronoms in völliger Ekstase hin und her, links, rechts, links. Drunten im Zieleinlauf kreischen 10.000 mit, wippen im Takt – ein mittelschweres Trockentraining für ihre Zehenspitzen. Während die Läuferinnen die Buckel schlucken, als ob sie gar nicht vorhanden wären. Wir sind beim Freestyle, und da ist alles ein bißchen anders. Freier eben. Die Stimmung ausgeflippt, ganz wie in einem etwas unterkühlten Open-air-Rockkonzert.
Links, rechts, links. Oooaah, Tausende Münder stehen offen, die Augen strahlen: Aus dem vollen Lauf heraus springt Tatjana Mittermayer eine Kombination, genannt „Twister-Grätsche“. Erst twistet der Körper, dann grätscht die 30jährige, nur 1,58 Meter kleine Frau und – bomm, staucht es ihre Wirbelsäule bei der Landung zusammen – weiter in den Buckeln. Links, rechts, link, recht, lin, rech – zum schwindliggucken. Aber bitte immer schön aufrecht. Schließlich gibt's beim „Twist around the mogul“ Wertungsnoten. Für Haltung, aggressives Buckelbeißen, sauberen Stockeinsatz, guten Schneekontakt.
Sieben Preisrichter müssen rasende Augäpfel besitzen, um die Beweglichkeitsartisten während der Arbeit auf ihre Netzhaut zu bannen. Gerade 30 Sekunden Zeit bleiben der Jury. Der Fahrstil zählt zur Hälfte, Geschwindigkeit und Ausführung der beiden akrobatischen Einlagen je 25 Prozent. „Back Scratcher“ – die Ski kratzen den Rücken entlang –, „Daffy“, „Helicopter“ – Drehung um 360 Grad –, „Spread Eagle“ – Ski öffnen sich wie Adlerflügel –, keine Frage, dieser Sport kommt, wie alle Modeerscheinungen aus „Crazy America“.
„Falsch“, protestiert Elvind Gjeraker, Trainer von Stine Lise Hattestad, die in Albertville, wo die Buckelpiste ihren olympischen Einstand gab, Bronze gewann und nun vor heimischem Publikum Olympiasiegerin wurde. Freestyle wurde zwar in den Staaten zusammengesetzt, aber „die einzelnen Elemente sind Bestandteil guter alter norwegischer Tradition“. „Haben Sie nicht die Eröffnungszeremonie und die 150 Telemark- Springer gesehen?“ Wir haben.
Wie auch immer. Li, re, l, r – „ein steilerer Hang wäre mir lieber“, denkt Tatjana Mittermayer, die in Lillehammer auf den sechsten Platz kam. Denkt auch Stine Lise Hattestad. Je flacher die Piste, desto mehr neigt man zum Kantenfahren. „Das ist tödlich“, erklärt die Bayerin, Olympiavierte vor zwei Jahren, und macht es doch. Die Kanten schneiden in den Schnee, dabei bleiben die wertvollen Zehntel stecken. „Ich mag das Steile, da muß ich mehr arbeiten.“ „Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagt die Norwegerin, die nach knapp 30 Sekunden im Ziel erst mal nach der kalten Luft japst.
Viermal hat sich Tatjana Mittermayer den Meniskus verdreht – zu Zeiten, als sie noch wie eine anständige Abfahrerin den Hang hinunterpeste. Danach wurde sie vom Deutschen Skiverband ausgemustert. Als Fallobst kam sie per Zufall zum freien Fall auf die mit Buckeln gespickte Waschbrettpiste. Seitdem ist sie verletzungsfrei. Was nicht unbedingt ein Verdienst dieser, ihrer zweiten sportlichen Liebe ist. Zwei prominente Gegenbeispiele: Donna Weinbrecht, 1992 Olympiasiegerin, hat ein mühsames Jahr der Rekonvaleszenz hinter sich, und auch der Meniskus von Stine Lise Hattestad hat beim Knieschnackeln 1989 den Dienst verweigert.
Die achtmalige deutsche Meisterin scheint noch in weiterer Hinsicht ein Einzelfall. Von derzeit 200 deutschen Freestylern kommen nur drei aus dem alpinen Bereich. Die meisten Freestyler sind ehemalige Trampolinspringer oder Turner. Stine Lise Hattestad ist Hindernisse, die den Weg versperren, gewöhnt. Sie kommt vom Hürdenlauf. Tatjana Mittermayer: „Die Slalomspezialisten fahren mittlerweile breitbeinig und hart an den Stangen. Wir parallel und weich.“ Alles ganz easy: Bei jedem Schlag, den der maschinell gebaute Hügel den Knochen verpaßt, nicht zurückschlagen, sondern einfach die Knie kommen lassen. Ganz einfach: Links, rechts, links, rechts.
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