piwik no script img

Türkischer Nationalismus

■ betr.: „Mythen und Fremdkörper“ von Zafer Șenocak, Intertaz vom 1. 10. 96

Als bloße Feststellung mag stimmen, daß zum „Nationalgefühl der Türken“ ein „ungebrochen positives Verhältnis zur ihrer eigenen Geschichte und nationalen Identität“ gehört, denn „Völker, die siegreich aus Konflikten hervorgegangen sind, verdrängen die durch sie begangenen Verbrechen“. Dies ist aber noch lange kein Grund für Rechtfertigung oder Apologie.

Im Klartext heißt dieser Satz doch, daß man einen Genozid, zum Beispiel den von Türken (und Kurden, aber unter türkischer Führung) zu verantwortenden Völkermord am armenischen Volk in den Jahren 1915/16 und die ethnische Säuberung Anatoliens und Thrakiens – heute fast frei von ArmenierInnen, JüdInnen und GriechInnen – begehen darf, wenn man den Konflikt, in den der Völkermord eingebettet ist, siegreich beendet. Es gibt sicherlich Blätter zur Genüge, in denen solche Gedanken ihre Heimat finden könnten, in der taz finde ich solche Verherrlichung von Nationalgefühl und -Geschichtsschreibung etwas befremdlich.

Șenocak führt weiter aus, daß der Versuch, die TürkInnen „durch Hinweise auf Verbrechen ... in die Gemeinschaft der Schuld empfindenden Deutschen aufzunehmen ... scheitern“ wird. Es stimmt, in der Gemeinschaft der Schuld empfindenden Deutschen mögen die TürkInnen nichts zu suchen haben – in der Gemeinschaft der Schuld empfindenden herrschenden Nationen würde ihnen als denjenigen, die immerhin den ersten Genozid dieses Jahrhunderts zu verantworten haben, ein Ehrenplatz zukommen.

Vielleicht hätten wir – die Menschen aus der Türkei (die wirklich nicht alle TürkInnen, auch nicht KurdInnen, sein müssen) – eine demokratischere Gesellschaft in der Türkei und in der Minderheit hier, wenn „die TürkInnen“ bereit wären, doch ein wenig Schuld zu empfinden. Dürfte eigentlich ein Deutscher eine ähnlich bornierte und ethnozentristische Lobhudelei auf seine eigene Nation verfassen, ohne zumindest als „rechtslastig“ kritisiert zu werden? [...]

Und warum eigentlich dürfen sich „Einwände gegen Einstellungen und Verhaltensweisen, die die Türken an den Tag legen“, nicht häufen? Sind Türken Prototypen des „guten Ausländers/der guten Ausländerin“? Und wenn ja, wäre eine solche Sichtweise nicht die eigentlich rassistische, weil sie „den TürkInnen“ Unkritisierbarkeit, heißt Unfähigkeit, Kritik zu ertragen und sich gegebenenfalls zu ändern, unterstellen würde?

Und wieso dürfen Linke nationalen Lobbyismus nicht kritisieren? Was sind nationale Interessen und seit wann wird ihrer Legitimität von Linken das Wort geredet? Welches sind die „mexikanischen Interessen“ in den USA, die Șenocak erwähnt – sind es die der Regierung oder die der Bauern/ Bäuerinnen in Chiapas oder ...?

Und ergo – was sind türkische Interessen in Deutschland? Ayșe Öktem

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen