Tuberöse Sklerose: Die tickende Wundertüte
Die sechsjährige Katharina leidet unter Tuberöser Sklerose (TS). Diese sehr seltene und unberechenbare Krankheit bestimmt das Leben ihrer Familie.
Ein Kleinbus hält vor dem Haus der Groths. Er wurde schon erwartet: Claudia Groth hatte durch das Fenster die Straße im Blick. Nun eilt sie hinaus, hebt ihre sechsjährige Tochter aus einem Sicherheitssitz. Langsam arbeitet sich Katharina an ihrer Hand die Auffahrt zum Haus entlang. Sie hebt die Beine kaum, etwas breitbeinig stakst sie vorwärts, unsicher, Schritt für Schritt. Drei Stufen muss sie überwinden, um in die Hochparterrewohnung zu gelangen.
Definition: Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie unter 10.000 Menschen maximal fünf betrifft. In Deutschland sind etwa vier Millionen Menschen von rund 5.000 verschiedenen seltenen Krankheiten betroffen. Drei Beispiele: NBIA: Steht für "Neurodegeneration mit Eisenspeicherung im Gehirn". Ursache ist häufig eine Stoffwechselstörung, ausgelöst durch eine Genmutation. Die Erkrankten leiden unter Krämpfen, Augenkrankheiten und Demenz. Schätzungen zufolge tritt die Krankheit je einer Million Menschen ein- bis dreimal auf. Proteussyndrom: Charakteristisch sind der Großwuchs und die Verdickung von Körperteilen, was zu Funktionsstörungen führen kann. Da die Krankheit sehr unterschiedliche Formen annimmt, wurde sie nach dem Gott Proteus benannt. Weltweit sind etwa 100 bis 200 Fälle bekannt. Hypophosphatasie (HPP): Der Enzymkomplex "alkalische Phosphatase" ist für den Aufbau gesunder Knochen zuständig. Bei HPP-Erkrankten ist dieser nicht vorhanden oder inaktiv. Sie leiden unter brüchigen Knochen, Atemwegserkrankungen und Nierenschäden. HPP tritt unter 100.000 Geburten einmal auf.
Es dauert, bis Katharina den Fuß auf der untersten Stufe hat, doch die anderen beiden nimmt sie dann flugs. "Puppe, das schaffst du!" Claudia Groth ermuntert sie, wie sie es jeden Tag unzählige Male tut - tun muss, wenn ihre Tochter laufen, essen oder die Medikamente schlucken soll. Antworten kann ihr Katharina nicht, sie kann nicht sprechen. Aber sie gibt Laute von sich, einen raunzenden Ton, der mal zufrieden, mal unwillig, mal seufzend klingt.
Die sechsjährige Katharina ist geistig auf dem Stand einer Anderthalbjährigen. Daran schuld ist eine bislang unheilbare Krankheit namens Tuberöse Sklerose, kurz: TS. Von 10.000 Neugeborenen ist im Schnitt eines betroffen, TS gehört zu den seltenen Krankheiten. Sie befällt vor allem Nervensystem und Haut, in ganz unterschiedlichem Ausmaß. Manche Patienten können ein weitgehend normales Leben führen. Katharina kann das nicht. Schuld daran sind zahlreiche gutartige Tumore, die ihr Herz befallen haben, aber auch und vor allem ihr Gehirn.
Dort lösen sie immer wieder epileptische Anfälle aus, "etwa zehn am Tag", erzählt Claudia Groth. Tagsüber sind es eher schwache Attacken, sogenannte Absencen. Dann wird der Blick von Katharina starr, zwei, drei Minuten lang wirkt sie abwesend, wie eine Hülle Mensch. Nachts kommen die langen, schweren Krämpfe, das Gehirn verheddert sich in einer Dauerschleife, die für die Kleine lebensbedrohlich sein kann. Damit sie sich dann nicht verletzt, hat das große Kinderbett Plexiglaswände, die mit Kissen gepolstert wurden. Ihre Mutter schläft in ständiger Habtachtstellung. Oft werde sie schon vor den Anfällen wach, "ich ahne sie voraus, wie ein Tier", sagt sie.
Claudia Groth lässt ihre Tochter nicht aus den Augen. Auf ihren langen schlaksigen Beinen schlingert Katharina durch das Wohnzimmer, schlägt unkoordinierte Haken. Die Sechsjährige kann seit einem halben Jahr kurze Strecken auch ohne Hilfe laufen. Doch ihre Feinmotorik ist nicht entwickelt, der Gleichgewichtssinn ist gestört. Sie steuert bedrohlich nah auf Tür-, Tisch- und Schrankkanten zu. "Sie nimmt Hindernisse nicht wahr", sagt ihre Mutter. Es ist schwer einzuschätzen, wie viel das Mädchen mitbekommt. Katharina schaut ihrem Gegenüber nie in die Augen, sondern immer an ihm vorbei.
Eine Ärztin attestierte ihr bereits autistische Züge. Und tatsächlich wirkt sie unzugänglich, wie in einer eigenen Welt, in ihrem Körper eingeschlossen. Aber ab und zu scheint es eine Brücke zu geben zwischen ihr und den anderen. Etwa, wenn man ihr ein Lied vorsummt. Dann lacht sie, und erleichtert fühlt man eine Verbindung zu ihr. Claudia Groth zweifelt daran, dass ihre Tochter autistisch ist. Schließlich suche sie den Kontakt zu anderen Kindern und kommuniziere auch per Mimik. Und wirklich: Wenn ihre Mutter sie in den Arm nimmt, entspannen sich Katharinas Gesichtszüge. Zieht Claudia Groth ihr die Schuhe an, zieht sie einen Flunsch. Aber viel mehr geht nicht. "Wenn ich sie rufe, weiß sie, dass sie gemeint ist. Aber sie kommt nicht, sie kann die Botschaft nicht umsetzen."
Dass Katharina an Tuberöser Sklerose erkrankt ist, scheint wie eine böswillige Laune der Natur. Eine spontane Genmutation während der Schwangerschaft war die Ursache, eine erbliche Vorbelastung gab es nicht. Die Frage, warum die Krankheit ausgerechnet ihre Familie traf, will Claudia Groth nicht zulassen. "Es wird alles seinen Sinn haben." Sie spricht vom Glück im Unglück, dass die Diagnose binnen eines Monats feststand - denn wer an einer seltenen Krankheit leidet, zieht oft jahrelang ohne Befund von Arzt zu Arzt.
Bei Katharina ist es ein Medizinstudent, der den Verdacht auf TS äußert. "Der hatte das wohl frisch im Studium gelernt", sagt Claudia Groth. Die Diagnose ist ein Schock. Während sie mit Trauer und Fassungslosigkeit ringt, durchforstet ihr Mann die ganze Nacht das Internet, sucht Informationen. "Das ist bei uns so, er ist der Kopf und ich bin der Bauch", sagt sie. "Ich will gar nicht so genau wissen, wohin die Krankheit noch führen kann."
Wer genau hinschaut, bemerkt in Katharinas Gesicht kleine rote Erhebungen, die aussehen wie ein Ausschlag. Auch das sind Tumorauswüchse. Bei anderen TS-Kranken führen sie zu großen weißen Flecken auf der Haut. Katharina hat nur eine breite weiße Strähne im blonden Haar. "Ich bin froh, dass sie nicht so ein Stigma trägt", sagt Claudia Groth.
Während ihre Mutter über die weiße Haarsträhne streicht, schmiegt sich Katharina eng an sie. Das Mädchen ist gut gelaunt, dreht den Kopf hin und her, schüttet eine ganze Ladung Spielerbsen über den Boden aus, freut sich über das Erbsenmeer. Gänzlich unbeeindruckt von dem Trubel zeigt sich Alexander: ihr älterer Bruder, der im Hintergrund auf dem Sofa sitzt. Der Neunjährige ist ein ruhiger, ernst wirkender Junge, der mit Engelsgeduld an Geschicklichkeitsspielen tüftelt. Seine Mutter und er wirken zusammen wie ein bewährtes Team: Führt sie die Kleine an der Hand, hält er die Türen auf. Bereitet Claudia Groth die Medikamente vor, passt Alex auf seine Schwester auf, unaufgefordert.
Füttern, Wickeln, Therapien, Arztbesuche - Katharina hält ihre Mutter auf Trab. Ihr Ehemann arbeitet auswärts, ist nur am Wochenende zu Hause. An zwei Nachmittagen der Woche wird die 39-Jährige von einer Sozialhelferin unterstützt. Dann beschäftigt sie sich besonders intensiv mit Alexander. Der hat sich daran gewöhnt, dass seine Schwester viel Aufmerksamkeit braucht. "Katharina will ihre Anfälle nicht verlieren, damit wir weiter auf sie aufpassen", flachst er. "Und wir dürfen unseren Humor nicht verlieren", ergänzt seine Mutter.
Erst nach einer Weile lässt sie tiefer blicken, wird die Anspannung spürbar. Dann, wenn sie die Suche nach dem besten Medikamentenmix gegen die epileptischen Anfälle beschreibt. Als Katharina eineinhalb Jahre alt war, probierten sie eine Hormontherapie. Doch die Tochter hat sie nicht vertragen, "wir haben sie fast verloren", sagt Claudia Groth leise.
Tuberöse Sklerose ist, wie die meisten seltenen Krankheiten, wenig erforscht. "Wir sind zu wenige, das rechnet sich nicht für die Pharmaindustrie", sagt Claudia Groth bitter. Ein spezifisches Medikament gibt es nicht, Katharina bekommt vier verschiedene Mittel gegen die unterschiedlichen Symptome. Fast alle sind eigentlich für Erwachsene gedacht, belasten ihren Kinderkörper. Aber seit Kurzem scheint zumindest eine Dosierung gefunden, die die kraftraubenden Krampfanfälle reduziert. Seither weint und schimpft sie weniger. "Ihr geht es gerade - toi, toi, toi! - gut", sagt ihre Mutter. In ihrer Stimme klingt Erleichterung mit, aber auch das Bangen, ob es so bleibt.
Denn TS ist eine tückische Krankheit, bei der es jederzeit zu Rückfällen kommen kann. Auch das Laufen kann Katharina wieder verlernen, "das ist fast wie bei Demenzkranken", sagt Claudia Groth. Aber darüber nachzudenken, nütze ihr nichts. Vielmehr freut sie sich über jeden Fortschritt. Vor einigen Wochen hat Katharina einen großen Schritt gewagt: von der Kita in eine Schule für geistige Entwicklung. Bisher läuft es gut. Auch jetzt, nach der Schule wirkt sie noch gut gelaunt.
Darauf vertrauen, dass das so bleibt, kann Claudia Groth aber nicht: "Wir leben damit, dass immer ein Notfall ansteht." Der nächste Anfall kann jederzeit kommen. Wenn das Telefon klingelt, ist sie wie alarmiert. "TS-Kinder sind wie Wundertüten. Oder wie kleine, tickende Zeitbomben."
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