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Transit zur Unabhängigkeit

Die Volksfront Lettlands entscheidet auf ihrem Kongreß am Wochenende über ein neues Programm / Wunschdenken statt Realitätssinn  ■  Von Ojars Rozitis

Berlin (taz) - Am Wochenende trifft sich die lettische Volksfront zu einem landesweiten Kongreß, dem ein neues, wesentlich radikaleres Programm zur Verabschiedung vorliegt.Hatte sich die Volksfront bei ihrer Gründung vor einem Jahr noch ein Programm gegeben, das sich auf die Prinzipien der XIX. Allunionskonferenz der KPdSU berief und den Übergang der UdSSR von einem „zentralisierten föderativen Staat zu einem Bund souveräner Staaten“ forderte, so steht davon in ihrem neuen Entwurf nichts mehr.

Statt dessen heißt es, jetzt habe sich die Möglichkeit eröffnet, mit „friedlichen Mitteln für die Unabhängigkeit Lettlands zu kämpfen„; angestrebt wird nicht weniger als „die Erneuerung der staatlichen Selbständigkeit“, „die Bildung einer demokratischen parlamentarischen Republik, die die demokratischen Traditionen der Republik Lettland fortsetzt, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für die lettische Nation und die Sicherstellung gleicher Rechte für alle Einwohner Lettlands“.

In einer „Übergangsphase“ sollen die Voraussetzungen für die Realisierung dieses Zieles auf demokratischem Weg geschaffen werden. Dafür gelte es, das bereits beschlossene Gesetz zur ökonomischen Selbständigkeit Lettlands und das vom Obersten Sowjet der Republik beanspruchte Vetorecht im Hinblick auf Unionsgesetze konseqent auszuschöpfen. Ihr Eintreten für ein Mehrparteiensystem verknüpft die Volksfront mit der aktiven Teilnahme am demokratischen Prozeß auf lokaler und regionaler Ebene, um so die Wahl von Volksvertretern zu erreichen, die „unmißverständlich den Willen zur Erneuerung der staatlichen Souveränität Lettlands bekunden“. Eine radikale Entmilitarisierung und der ökologische Umbau Lettlands werden gleichfalls anvisiert.

Für den kritischen Beobachter im Westen bleiben einige Fragen offen. Woher nimmt die Volksfront die Gewißheit für ihre These, daß „allein in einem unabhängigen und demokratischen Lettland die Überwindung der ökonomischen und sozial-politischen Krise, die Lösung der nationalen Frage, die Garantierung der Gleichberechtigung aller nationalen Gruppen möglich“ sei: als Absage an das bisherige System verständlich genug, als Zukunftsperspektive aber durch nichts ausgewiesen.

Oder das Bekenntis zur besonderen Förderung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit und zum Marktmechanismus wie läßt sich dies mit der Forderung nach einem staatlich garantierten und an den Lebenshaltungsindex angepaßten Mindesteinkommen verbinden? Ein Mirakel, das selbst die entwickeltesten kapitalistischen Länder noch nicht verwirklicht haben. Allzu blauäugig klingt da der Vorschlag zur Aufstockung des Sozialbudgets durch tiefe Einschnitte in den Wehretat und Reduzierung des bürokratischen Apparats. Der Popularität der Volksfront jedoch tun diese Unklarheiten keinen Abbruch: Nach neuesten Umfrageergebnissen des lettischen Fernsehens identifizieren sich 79 Prozent der lettisch sprechenden Bevölkerung, aber auch 64 Prozent der anderen Einwohner mit der Volksfront. 2,9 Prozent bzw. 8,8 Prozent dagegen nur mit der KP.

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