Transformationsforscher zum Klimawandel: „Für Unternehmen ein Dilemma“

Wie schnell kann die Industrie fossile Energieträger ersetzen? Kommt auf die Branche an, sagt Industrieforscher Tobias Fleiter.

Dampf und Maschinen in einer Halle von Thyssenkrupp Steel Europe in Duisburg.

Sieht nicht nach 21. Jahrhundert aus: Werksgebäude des Stahlwerks Thyssen-Krupp Foto: Fabian Ritter

taz: Herr Fleiter, wird in der Industrie seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ernsthafter über die schädliche Abhängigkeit von fossiler Energie diskutiert als vorher?

Tobias Fleiter: Auf den Weg zur Dekarbonisierung hatte sich die Industrie schon vorher gemacht. Neu ist ihr Verhältnis zum Gas. Vor dem Ukraine-Krieg war Erdgas quasi der Lieblingsenergieträger aller Industriebranchen. Jetzt ist klar geworden, dass Gas viel teurer wird und die Versorgung nicht so sicher ist, wie gedacht. Deshalb fragen sich alle, wie sie ihre Prozesse auf andere Energieträger umstellen können.

Der hohe Gaspreis ist das entscheidende Kriterium?

Entscheidend für solche Überlegungen ist auch der hohe CO2-Preis. Er liegt inzwischen bei 70 bis 80 Euro und hat damit erstmals einen Einfluss auf Investitionsentscheidungen. Unsere Analysen zeigen, dass besonders Strom und Wasserstoff zentrale Energieträger für die CO2-neutrale Industrieproduktion sind. Es wäre geschickt, nun die Gelegenheit zu nutzen und direkt in die Elektrifizierung der Prozesswärme einzusteigen.

Welche Branche kommt denn wie schnell weg vom Gas?

Die Chemische Industrie steht sicher vor den größten Herausforderungen, weil sie Öl und Gas nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoffbasis verwendet. Die Papier- oder auch die Nahrungsmittelindustrie haben es leichter. Sie nutzen Gas, um Dampf für ihre Produktionsprozesse zu erzeugen und haben dafür technische Alternativen. Statt Gas- können sie beispielsweise Elektrodenkessel nutzen, der Dampf mit Strom erzeugt. Es wäre im Übergang sinnvoll, sie parallel als hybride Anlagen zu betreiben, also Gas- und Elektrokessel nebeneinander. Die Unternehmen könnten entsprechend der aktuellen Marktsituation den jeweils günstigeren Energieträger nutzen und wären resilienter, auch gegenüber Krisen wie der gegenwärtigen.

Zwei Systeme nebeneinander – ist das nicht zu teuer?

Angesichts der derzeitigen Gaspreise und der großen Versorgungsunsicherheit lohnt sich das. Ein Problem sind die hohen Strompreise. Alle Initiativen, die den Strompreis entlasten, sind gut.

Tobias Fleiter

leitet das Geschäftsfeld Nachfrage­analysen und -projektionen am Fraun­hofer-Institut für System- und In­no­va­tions­for­schung ISI in Karlsruhe.

Vor 16 Jahren erschien der sogenannte Stern-Report, der die Kosten der Erderhitzung benannte. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte man wissen können, kein Klimaschutz ist teurer als Klimaschutz.

Aus unseren Analysen zu Investitionen in Energieeffizienz wissen wir: Unternehmen denken deutlich kurzfristiger. Investitionen müssen sich schnell rentieren, etwa innerhalb von zwei bis drei Jahren. Ein ganzes Stahlwerk auf Wasserstoff umzurüsten ist natürlich etwas anderes, solche Anlagen sind strategisch wichtige Investitionen mit langfristiger Perspektive. Sie haben eine Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren oder sogar länger. Das ist auch ein Problem: Jede fossile Anlage, die derzeit noch gebaut oder modernisiert wird, ist 2040 oder 2050 noch in Betrieb. Wenn wir 2045 klimaneutral sein wollen, müssen wir solche Investitionen heute vermeiden. Für Unternehmen ist das ein Dilemma.

Warum?

Einerseits wissen sie, dass fossile Anlagen keine Zukunft haben. Andererseits sind Investitionen in klimaneutrale Anlagen im großindustriellen Maßstab auch unsicher. Erstens wissen Unternehmen nicht, ob ihre Kunden – Konsumenten oder auch Weiterverarbeiter – zu einem höheren Preis klimaneutrale Produkte kaufen. Zweitens kann der derzeit hohe CO2-Preis wieder fallen. Drittens sind technische Alternativen – vor allem wenn sie auf grünem Wasserstoff basieren, derzeit noch nicht verfügbar.

In welchem Zeitraum wird es denn realistischerweise genügend Wasserstoff geben?

Die Europäische Kommission hat ihr Ziel für 2030 gerade verdoppelt, es sollen bis 2030 jährlich 10 Millionen Tonnen Wasserstoff heimisch produziert und zusätzlich 10 Millionen Tonnen importiert werden. Ich sehe nicht, wo die herkommen sollen. Dazu müsste die Infrastruktur sehr viel schneller aufgebaut und hochgefahren werden als etwa im Bereich der Photovoltaik in ihren größten Boom-Jahren. Gleichzeitig ist die Komplexität beim Wasserstoff viel höher.

Gehen wir die Branchen doch mal durch – wer ist am weitesten auf dem Weg Richtung CO2-Neutralität?

Alle Branchen haben Roadmaps für diesen Weg vorgelegt. Am weitesten gekommen sind wohl die Stahlhersteller mit ihren Ideen. Im Grunde haben alle angekündigt, Direktreduzierungsanlagen zu bauen; das heißt, sie ersetzen ihren Hochofen durch eine Anlage, die Wasserstoff einsetzen kann.

Welche Branche liegt besonders weit zurück?

Die Zement- und Kalkhersteller können nicht CO2-neutral produzieren. Sie sind langfristig darauf angewiesen, CO2 abzuscheiden und zu speichern. Dafür brauchen sie Speicher und eine entsprechende Transportinfrastruktur, also Kohlendioxidpipelines. Speicher gibt es in der Nordsee in alten Gasfeldern. Dänemark, Großbritannien und die Niederlande erschließen sie gerade, auch für deutsche Zement- und Kalkwerke.

Was ist im Industriesektor das wichtigste Projekt, um weg von Öl und Gas zu kommen?

Wir müssen schnell in elektrische Prozesswärme einsteigen. Wie erwähnt sind hybride Systeme im Übergang eine Schlüsseltechnik. Abgesehen davon müssen wir dringend Märkte für CO2-neutrale Produkte schaffen, die es den Unternehmen erlauben, ihre Mehrkosten einzupreisen. Ein Beispiel: Als Kundin könnten Sie sich im Baumarkt derzeit nicht für den Sack Zement mit dem geringsten CO2-Rucksack entscheiden, da diese Information ganz einfach fehlt. Unternehmen können ein CO2-neutral hergestelltes Produkt nicht teurer verkaufen, weil der Kunde (oder Weiterverarbeiter) nicht erkennen kann, dass es besser ist. Eine Kennzeichnungspflicht zum CO2-Fußabdruck von Produkten kann hier Abhilfe schaffen und wäre die Grundlage für eine Nachfrage nach klimafreundlichen Produkten.

Bauen ist jetzt schon teuer, ist es realistisch, dass der Bau klimaneutrale, teure Baustoffe einsetzt?

Die Baustoffe haben ja nur einen geringen Anteil an den gesamten Baukosten, das würde schon gehen. Und es ist nun mal so: Der Großteil der Produkte der besonders energieintensiven Industrie landet in der Bauwirtschaft. Es ist ganz zentral, dort eine Nachfrage für klimafreundliche Produkte zu schaffen. Bislang haben wir bei Gebäuden vor allem auf den Energieverbrauch in der Nutzungsphase geschaut. Künftig müssen wir den Emissionsrucksack der verwendeten Materialien stärker berücksichtigen.

Hausbesitzer, die sich gerade etwa Wärmepumpen anschaffen wollen, scheitern an Lieferzeiten und Handwerkern. Gilt das auch für Industrieunternehmen?

Die Industrie leidet etwas weniger unter dem Fachkräftemangel als die Privatleute. Es geht ja hier nicht um Installateure, die um die Ecke wohnen, der Bau von Großanlagen ist international. Hier ist der Knackpunkt tatsächlich die Wirtschaftlichkeit im Betrieb der Anlagen.

Wie teuer wird die Transformation für die Industrie?

Wir haben versucht, die Gesamtkosten zu berechnen, das lässt sich aber kaum seriös machen. Ein Ergebnis ist aber: Der Industriesektor benötigt in Summe eher niedrige Investitionen, vor allem im Vergleich zum riesigen Gebäudebestand. Ein modernes Zementwerk mit Technik zur CO2-Abscheidung könnte 200 bis 300 Millionen Euro kosten. Wir haben aber nur 30 bis 40 Zementwerke in Deutschland. Sie umzustellen ist bei Weitem nicht so teuer, wie den Bestand von über 20 Millionen Gebäuden energetisch zu sanieren. Das gilt auch für Stahlwerke: Die Investitionen in ein einzelnes Werk sind mit rund einer Milliarde hoch, um es auf Wasserstoff umzustellen. Aber wir haben nur wenige Hochöfen in Deutschland. Dennoch sind Förderprogramme nötig, um entsprechende Investitionen wirtschaftlich zu machen und den Markteinstieg zu ermöglichen. Hier wird derzeit einiges auf den Weg gebracht.

Gelingt die Transformation vor allem durch neue Technologien?

Nein. Unser Ziel muss eine energie- und materialeffiziente Kreislaufwirtschaft sein. Dazu gehört auch ein effizienterer Einsatz und geringerer Verbrauch von energieintensiven Produkten wie Zement, Stahl, Kunststoffen entlang aller Stufen der Wertschöpfungsketten. Wirtschaften wie heute, nur mit grünem Wasserstoff, das wird nicht gehen. Dazu ist unser Energiebedarf derzeit zu gewaltig.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.