: Tour d'Europe
■ Reisefrust in Ostdeutschland
„Wo bitte geht's zum Rathaus?“ Die neugierig glotzende Kuh wußte nicht so recht, was antworten. Und sonst war niemand da, den man hätte fragen können. Es blieb also nur, die mit Schlaglöchern gepflasterte Straße weiterzukurven. Nach den Fabrikhallen und Häusern zu urteilen, die alsbald in der Ferne auftauchten, näherten wir uns einer Stadt. Bei näherem Hinsehen handelte es sich jedoch lediglich um einige heruntergekommene Wohnsilos, die ein begnadeter Städteplaner mitten in einen Kartoffelacker gestellt hatte. Von Rathaus keine Spur. Hier sollten wir in wenigen Minuten die Honoratioren der Gegend treffen. Statt dessen das Unbeschreibbare um uns herum: weder Stadt noch Land, weder Zentrum noch Vorort. So weit das Auge reichte nur kohlfarbener Horizont, durchbrochen von schwarzgrauen Wohnblöcken.
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. Dies gilt selbst für EG-Kommissare, zumal wenn sie sich aus ihrem überragenden Verwaltungssitz Brüssel in die Niederungen ostdeutscher Lande begeben. Ausgerechnet Brandenburg, das bereits Theodor Fontane als unzivilisierte Einöde beschrieben hatte, war dem britischen EG-Kommissar Bruce Millan als Reiseziel verordnet worden. Für den die Bequemlichkeit von „Concorde“-Fliegern gewohnten Eurokraten geriet dabei schon die Anfahrt zum Abenteuer, wie man einem Mitarbeiter-Reisebericht entnehmen kann. Ziel des vorösterlichen Ausflugs war die feierliche Unterzeichnung des EG- Entwicklungshilfeprogramms für die fünf neuen Bundesländer. Sechs Milliarden D-Mark stellt die Kommission im Rahmen ihrer regionalen Förderkonzepte für die ostdeutschen Länder von 1991 bis 1993 zur Verfügung.
Um es vorwegzunehmen: Die illustre Reisegesellschaft kam noch rechtzeitig an. Nach rasender Fahrt im schwarzen Mercedes über kopfsteingepflasterte Wege, ampellose Kreuzungen und Marktplätze ohne Märkte, aber vorbei an Banken voller schlangestehender Menschen fanden sie zu guter Letzt das aschfahle Rathaus. Dort wurden sie sogar freundlich begrüßt, obwohl sie, wie ihnen mehrfach bedeutet wurde, gar nicht erwartet worden waren. Nach einer ausführlichen Schilderung der desolaten Lage führten die brandenburgischen Gastgeber den hohen Besuch und seine Begleiter noch durch eine antiquierte Spielzeugfabrik, die in die Klauen der Treuhand-Gesellschaft geraten war. Von so viel Gutherzigkeit der vom Schicksal Geschlagenen überwältigt, versprach der Kommissar zurückzukommen — allerdings nicht ohne hinzuzufügen, daß er auf Ähnliches bei fast allen seinen Visiten in der reichen EG stößt — sei es in Glasgow, Birmingham, im spanischen Bilbao oder an der portugiesischen Atlantikküste. Zynismus beiseite: Für die Armenhäuser Europas zuständig zu sein ist auch für einen EG-Kommissar kein Zuckerschlecken. bull
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