■ Tour d'Europe: Rezepte gegen Pleite
In den vergangenen zwei Jahren ging die Tristesse um im europäischen Haus. Der Pleitegeier flatterte selbst über so scheinbar krisensicheren Ländern wie der Bundesrepublik oder Österreich. Inzwischen allerdings scheint die ökonomische Talsohle in den meisten europäischen Ländern durchschritten zu sein. In Ost- und Mitteleuropa sind Tschechien, Polen, Ungarn und Slowenien Vorreiter bei der wirtschaftlichen Erholung, gefolgt von den baltischen Staaten. Hier wird hervorgehoben, daß die Privatisierung weiter vorangeschritten und der Dienstleistungsbereich stark ausgebaut worden ist. In Polen und Tschechien erwirtschaftet der Privatsektor bereits etwa die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts. Dazu kommt eine gesteigerte finanzielle Stabilität. Bezüglich dieser Länder wird für das Jahr 1994 eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von zwei bis fünf Prozent geschätzt. Freilich wird eingeräumt, daß sich das noch nicht positiv auf die Arbeitslosigkeit auswirken werde. Immer weiter scheint hingegen Rußland in der wirtschaftlichen Misere zu versinken. Hier wird für dieses Jahr eine Senkung des Bruttoinlandsprodukts um 15 bis 16 Prozent erwartet. Als Grund dafür wird die politische und finanzielle Instabilität, die Unvorhersehrbarkeit der Wirtschaftspolitik und das mangelnde Vertrauen der Geschäftsleute angegeben.
Ein außerordentlich negatives Beispiel für eine Volkswirtschaft ist die Türkei: Im vergangenen Jahr betrug die Inflationsrate bereits 73,6 Prozent. In diesem Jahr ist sie auf 136 Prozent gestiegen. Auch das Privatisierungskonzept der staatlichen Unternehmen, das die Ministerpräsidentin als Heilmittel der Volkswirtschaft angekündigt hatte, kann wegen wachsender Proteste nicht in der gewünschten Geschwindigkeit umgesetzt werden. Innerhalb Westeuropas wird für dieses Jahr eine wirtschaftliche Erholung verzeichnet – ebenfalls ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Arbeitslosenquoten. Die Pleitewelle, die Westeuropa 1993 heimgesucht und vor allem Spanien, Österreich und die BRD betroffen hat, mag dieses Jahr abgenommen haben. Dennoch warnen die Wirtschaftsforscher für West- wie für Osteuropa vor verfrühter Euphorie: Das verarbeitende Gewerbe und der Dienstleistungsbereich seien von Pleiten am meisten bedroht, da es sich meist um kleine Betriebe mit geringer Finanzdecke handele, die Konjunkturschwankungen nur schlecht widerstehen und zum Teil ineffizient arbeiten. Für Osteuropa wird die hohe (verdeckte) Arbeitslosigkeit als eines der Hauptprobleme ausgemacht sowie die Stagnation bei der Privatisierung und Restrukturierung der Staatsunternehmen. Studien betonen, daß es kein Patentrezept für einen Ausweg aus der Krise gibt, sondern daß eine Vielfalt von Maßnahmen staatlicher und privater Art ergriffen werden müssen. Besonders Eigeninitiative, Flexibilität und berufliche Qualifikation werden als chancenfördernd angegeben.ant
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