gefahr von rechts
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Das Fanal

Im Mordfall Walter Lübcke zieht der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich. Er stuft die Erschießung des CDU-Mannes als rechtsextrem motiviert ein

Die groß angelegte Spurensuche hatte Erfolg, Polizisten stehen am 3. Juni vor dem Haus des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Wolfhagen-Istha Foto: Ralph Orlowski/reuters

Aus Wiesbaden und Berlin Sabine am Orde, Konrad Litschko, Christoph Schmidt-Lunau und Andreas Speit

Am Montag sitzt Stephan E. weiter in U-Haft, in der JVA Kassel 1. In der Nacht zu Samstag war der 45-Jährige von Spezialeinheiten der Polizei in Kassel festgenommen worden unter „dringendem Tatverdacht“. Er soll es gewesen sein, der vor zwei Wochen Walter Lübcke erschossen hat, den Regierungspräsidenten von Kassel, einen CDU-Mann. Und er ist es, der dem Fall nun eine neue Wendung gibt.

Denn Stephan E. hat eine einschlägige Vita: Schon 1993 verübte er nach taz-Informationen einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim im hessischen Hohenstein-Steckenroth. In einem Auto hatte er eine Rohrbombe versteckt, den Pkw vor der Unterkunft in Brand gesetzt. Bewohner konnten den Brand rechtzeitig löschen.

E. blieb der rechtsextremen Szene und der Gewalt treu: Noch am 1. Mai 2009 war er an einem Angriff von gut 300 Neonazis auf eine Dortmunder DGB-Kundgebung beteiligt. Mit Steinen und Holzstangen gingen sie auf die Gewerkschafter los.

Nun soll Stephan E. der Mörder von Walter Lübcke sein. Der Todesfall bekommt damit eine neue Dimension. Denn nun muss über ein rechtsextremes Attentat an einem Politiker gesprochen werden.

Lübcke war in der Nacht zum 2. Juni vor seinem Haus in Wolfhagen-Istha erschossen worden, mit einem Kopfschuss aus nächster Distanz, einer Hinrichtung gleich. Die Polizei hatte zunächst einen Bekannten der Familie festgenommen, einen Sanitäter, der am Tatort geholfen hatte – und den Mann mangels Tatverdacht wieder freigelassen. Dann folgte die Festnahme von Stephan E. Offenbar wurde der 45-Jährige über einen DNA-Treffer auf der Kleidung von Lübcke überführt. In der Wohnung beschlagnahmten die Ermittler umfangreiches Datenmaterial, auch Waffen sollen sie gefunden haben. Hatten bis dahin das Landeskriminalamt Hessen und die Staatsanwaltschaft Kassel ermittelt, übernahm am Montagvormittag nun die Bundesanwaltschaft den Fall.

Am Nachmittag bekräftigte ein Sprecher, dass seine Behörde von einem „rechtsextremistischen Hintergrund der Tat“ ausgehe. Dafür spreche das Vorleben von Stephan E. und dessen zuletzt wiedergegebenen Meinungen. Hinweise auf Mittäter oder eine rechtsterroristische Vereinigung gebe es bisher nicht, so der Sprecher.

Stephan E. selbst schweigt bisher zu den Vorwürfen. Die Ermittler klären das finale Tatmotiv deshalb derzeit noch ab – und auch das Umfeld von Stephan E. Was war der konkrete Grund für den Schuss auf Lübcke? Gab es Mitwisser?

Lübcke war bereits 2015 in den Fokus von Flüchtlingsfeinden geraten. Auf einer Bürgerversammlung hatte der CDU-Mann offensiv für die Aufnahme von Geflüchteten geworben. Wer mit dieser Hilfsbereitschaft nicht einverstanden sei, könne das Land ja verlassen, sagte der CDU-Mann. Ein Video des Auftritts machte die Runde, die rechte Szene bedrohte Lübcke danach über Monate, auch die frühere CDU-Abgeordnete Erika Steinbach mischte mit. Ein Blog veröffentlichte die Wohnadresse des 65-Jährigen.

Bisher hatte das LKA Hessen erklärt, hierzu keinen Zusammenhang zu sehen. Mit der Festnahme von Stephan E. ist nun alles anders. Noch am Montag beantragte die Opposition im Bundestag eine Sondersitzung des Innenausschusses. Der Grüne Konstantin von Notz erklärte, nun müsse alles zu dem Fall „auf den Tisch“. FDP-Mann Konstantin Kuhle forderte: „Schluss mit dem bürgerlichen Appeasement gegen Rechtsextreme“.

An der rechtsextremen Vergangenheit von Stephan E. haben die Ermittler keinen Zweifel. Die Sicherheitsbehörden listeten den 45-Jährigen als militanten Rechtsextremisten, dort wird er als extrem gewaltbereit, impulsiv und NPD-nah beschrieben. Offenbar wurde E. in der rechtsextremen Szene der neunziger Jahre politisiert – einer Zeit, in der die Szene offen zu Gewalt neigte und auch das spätere NSU-Trio sich radikalisierte. Als der NSU 2006 in Kassel seinen neunten Mord an dem Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat verübte, war E. in der Kassler Neonazi-Szene aktiv.

Rechtsextremismus sei in Hessen „konsequent unterschätzt“ worden

Janine Wissler, Linke

Dazu passt, dass Stephan E. nach taz-Informationen mit dem Kasseler Neonazi Stanley R. bekannt ist. Der gilt als prägende Figur des hessischen „Combat 18“-Ablegers. Das militante Netzwerk machte zuletzt Schlagzeilen, weil Mitglieder, auch aus Hessen, zu Schießübungen nach Tschechien ausrückten. Der hessische Verfassungsschutz attestiert der Gruppe eine grundsätzliche „Waffenaffinität und Gewaltbereitschaft“.

Noch kürzlich soll Stephan E. in einem YouTube-Video gedroht haben, wenn die Regierung nicht bald handele, werde es Tote geben. Und 2016 spendete er nach taz-Informationen 150 Euro an die AfD Thüringen. Betreff: „Gott segne euch“.

Auch in Hessen reagierte die Politik mit Entsetzen. Dort war Stephan E. bereits Thema im NSU-Ausschuss gewesen. Die Linken-Innenexpertin Janine Wissler sprach von einer „NSU-Nachahmungstat, wenn sich die Berichte bestätigen“. Die Gefahr des Rechtsextremismus sei in Hessen „konsequent unterschätzt“ worden. Der Verfassungsschutz dort habe nach ihrer Kenntnis schon lange von der hohen Gewaltbereitschaft von Stephan E. gewusst. Auch SPD-Fraktionschefin Nancy Fae­ser forderte die Behörden auf, „endlich mit der nötigen Härte“ gegen die Neonazi-Szene vorzugehen. Es sei „mindestens irritierend“, dass diese ungeachtet der vielen Drohungen gegen Lübcke „immer wieder verlautbart haben, sie ermittelten im persönlichen Umfeld des Opfers – um dann anhand einer DNA-Spur doch auf einen behördenbekannten Neonazi als möglichen Täter zu stoßen“.

Das weckt Erinnerungen an den Fall Henriette Reker. Im Oktober 2015 hatte der Rechtsextremist und arbeitslose Malergeselle Frank R. der Kölner Oberbürgermeisterkandidatin ein Messer in den Hals gerammt. Reker überlebte. Der 45-Jährige hatte seine Tat als Zeichen gegen die „irre“ Flüchtlingspolitik erklärt – und er war schon in den Neunzigern in der rechtsextremen Szene aktiv bei der Neonazi-Partei FAP.

Bis zuletzt waren Politiker Angriffen ausgesetzt, in AfD- und Pegida-Kreisen werden sie als „Volksverräter“ geschmäht. 217 Delikte zählten Sicherheitsbehörden allein im ersten Quartal 2019. Zuvor hatten bereits rechtsterroristische Gruppen wie die Oldschool Society, Nordkreuz oder Revolution Chemnitz Politiker zum Ziel erkoren. Die drei Gruppen wurden indes hochgenommen, bevor sie zur Tat schreiten konnten.