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Tod auf den Schienen - ein kurzer Aufenthalt

■ Selbstmord auf der Transit–Strecke nach West–Berlin / „Der muß schon sehr verzweifelt gewesen sein“ Zugreisende zwischen Eile und Betroffenheit / Kriegserinnerungen und eine halbe Stunde Verspätung für den D–Zug Nr. 308

Aus Berlin Imma Harms

Freitagabend um 22.32 Uhr soll der D–Zug Nr. 308 im Berliner Bahnhof Zoo einlaufen. Kurz nach der Mauer und noch einige Kilometer vom Bahnhof Wannsee entfernt, ruckt der Zug - Vollbremsung. Die Reisenden fallen über die im Gang gestapelten Koffer. Eine alte Dame aus Landshut schreckt aus ihrem Dämmerschlaf hoch. Der Zug steht. Das Ehepaar, das in Wannsee abgeholt werden soll, läuft unruhig im Gang auf und ab. Kein Rotsignal, keine Weiche, die DDR–Grenze liegt hinter uns, rechts und links dunkler Wald. Hat jemand die Notbremse gezogen? Wagenfenster werden heruntergeschoben, Köpfe tauchen in die Dunkelheit. Von der Lok aus wandern zwei Lichtpunkte am Zug entlang. Weiter hinten sind Wortfetzen zu hören. Der Schein der Taschenlampe geistert um das Zugende, das sich von den Schlußleuchten schemenhaft aus der Nacht abhebt. Ein Gerücht rollt durch das Wageninnere zurück: Ein Toter! Jemand hat sich auf die Gleise gelegt. Die Reisenden reagieren ungläubig und verschreckt. Die Frau aus Landshut versteht nicht, schaut sich nur staunend um. Auf dem Gang recken sich die Hälse. „Watt denn? Echt n Tota?!“ Ein Betrunkener nimmt noch einen Schluck aus der Pulle. Die Frau aus Wannsee macht sich Luft: „Na, det kann dauern! Mindestens ne Stunde!“ Eine Mitreisende pflicht ihr bei: „Meine Tochter hat uns schon gesagt, Mama, fahr nicht mit dem Zug, der kommt doch nie pünktlich“, und dann grimmig: „Hätte der sich nicht vor den nächsten Zug schmeißen können?“ Betretenes Schweigen. „Ich mein ja nur, wenn det nu sein mußte, da hätt der ja auch den nächsten nehmen können!“ - „Na, das ist stark“, murmelt eine Frau, benommen an die Wagenwand gelehnt. „Ick sprech doch nur aus, wat alle hier denken“, verteidigt sich die andere, und wie um ihren Worten das Gewicht zu nehmen: „Warum kommt die Feuerwehr nicht?“ Irgendwann rollt ein Kleinbus mit DDR–Nummernschild über den Sandweg neben den Gleisen. Ein dritter Lichtstrahl irrt über die Böschung, umkreist eine dunkle Verwerfung vor dem letzten Waggon. Eine Grasnarbe - oder ...? Zum Zugende hin hat sich die Neugierde in Grauen verwandelt, die Zugfenster sind wieder geschlossen. Eine Eifrige meldet: „Ja, det istn Tota, ick hab et jenau jehört.“ Die Frau aus Landshut sitzt jetzt wieder auf ihrem Platz, hält die neben sich aufgestellten Koffer fest und blickt vor sich hin. Was geschehen ist, dringt langsam in ihr Bewußtsein. „Sich so auf die Schienen legen, der muß schon sehr verzweifelt gewesen sein. Ich könnte das nicht. Sie?“ - Wieso eigentlich „er“? Warum nicht „sie“? Die Vorstellung steigt in mir hoch, daß vor wenigen Minuten unter unseren Füßen, ja, auch von den Rädern dieses Wagens, ein sterbender Körper überrollt worden ist. Die alte Frau schüttelt wieder und wieder den Kopf. „Damals nach dem Krieg, da wollte ich mit meiner fünfjährigen Tochter in die Isar gehen, ich meine, jeder ist mal verzweifelt, nicht? Aber als ich so dastand, ..., nein, ich könnte das nicht“. „Ich auch nicht“, sage ich leise. Auf dem Gang schimpft die Resolute: „Wie lang wollen die uns denn hier noch stehen lassen? Da ist doch nichts mehr zu ändern.“ Nein, wirklich nicht. Wenn erst mal dreißig Räder über einen Menschen gerollt sind, dann können die beiden letzten ihm auch nichts mehr anhaben. Draußen wird debattiert: „... Telefonieren ... Hilfswagen unterwegs ...“. Wie lauten die Vorschriften? Einer der Zugschaffner stürmt durch die Gänge: „Ja, es geht gleich weiter“. Sein Gesicht ist rot, er pflügt sich durch die ungeduldig Fragenden. „Is nich jrade schön, wenn der Kopp nich mehr dran is“, höre ich. Jetzt breitet sich Schweigen aus. Jeder würgt für sich allein. Die Wartezeit verwandelt sich in einen Augenblick kollektiver Ohnmacht. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung und zieht zentimeterweise vorwärts. Draußen hält ein Lichtkegel die dunkle Masse neben den Rädern des letzten Wagens fest, bis sie in der Dunkelheit verschwindet. Die Fahrt geht weiter. Der Betrunkene bietet Magenbitter an. Mit einer halben Stunde Verspätung fährt der D–Zug Nr. 308 in den Bahnhof Wannsee ein.

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