: Theaterkritik
■ betr.: „Nicht jeder Punk ist krank“, taz v. 26.9.88
Vor ziemlich genau zwei Jahren (am 5.9.86) habe ich euch einen Leserbrief geschrieben, weil euer Rezensent ein Stück besprochen hatte, bei dessen Aufführung er nicht einmal physisch zugegen war. Bei der des Klassenfeind durch die Theaterwerkstatt Unna war eure Rezensentin zumindest physisch anwesend, was sicherlich ein Fortschritt ist. Ausreichend ist es nicht, denn der mangelnde Bezug dieser Theaterkritik zur Realität und der stark zum Fabulieren wirkt störend. Der Abend hat der Kritikerin nicht gefallen, noch weniger die Gruppe. Also hat sie nicht einfach einen Verriß geschrieben, sondern beschlossen, die Gruppe zu Exekutieren. Da dies mit Fakten nicht ging, mußte die Realität entsprechend transformirt werden. Die Akteure werden zu Bürgerkindern gemacht, die sich Punks vorstellen. Sie kennt den Hintergrund jedes einzelnen von ihnen. Auf der Bühne werden sechs Punks dargestellt, auch wenn nur einer zu sehen ist. Die Schauspieler sind alle sehr jung, mögen sie noch so alt sein, und alle kommen sie aus dem Schülertheater. Fakten kümmern sie nicht, im Kindergarten waren wir alle mal. Das die Rezensentin der englischen Sprache mächtig ist, ist für mich als Leser uninteressant. Das fuck nicht eins zu eins ins Deutsche zu übersetzen ist, ist banal. Daß sie diesen Dorftrotteln aus Unna Unkenntnis englischer Slangs unterstellt, mit einem gibt sie sich nicht zufrieden, ist aussagakräftig. Pommes rotweiß heißt Pommes Frites mit Majonaise und Ketchup. Dafür gibt es im Englischen kein Äquivalent. Im Kohlenpott redet man manchmal seltsam. Wenn die Kritiker daraus, daß die Gruppe nach der Aufführung Schlipse trug, schließen will, daß sie dies taten „offensichtlich, um sich von denen, die sie dargestellt hatten, zu distanzieren“, so ist daß ihr Problm. Traurig ist, daß sich die Gruppe überhaupt mit dem Satz „Das haben wir uns als Gag gedacht.“ hierfür verteidigen mußte. Sie haben einen seltsamen Humor, die Leute da unten. Ein Disput über die schauspielerischen Leistungen der Gruppe ist an dieser Gruppe ist an dieser Stelle witzlos. Die Aussage „die darstellerische Leistung war größtenteils einfach schlecht“ stinkt nicht nur, sie ist nichtssagend, weil ohne Begründung. Niemand weiß, ob die Akteure rumgehampelt sind, rumgestottert haben, oder sich dauernd in der Nase bohrten. Das Puplikum, das der Aufführung (vermutlich in einem großartigen Anfall von Ignoranz) viel Beifall zollte, kann daraus nichts für die Zukunft lernen und wird seinen Fehler vermutlich beim nächsten Mal wiederholen. Am Schluß der Kritik bescherte uns die Kritikerin ein Zitat aus der dem Stück folgenden Diskussion, welches angeblich das ganze auf einen Punkt brachte. Ich ziehe einen Satz vor, der zu Anfang der Diskussion fiel: „Wo liegt eigentlich Unna?“. Ich denke, er drückt komprimiert aus, was man vom Kirchturm einer Kleinstadt mit überdeminsionalen Allüren sieht, wenn man Richtung Ruhr und Emscher blickt.
Karl-Heinz Witzko
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