Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz: Showdown im Bundestag
Was macht eigentlich der Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern? In Berlin sagen die Abgeordneten: So etwas haben wir noch nie erlebt.
D er Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag hat einen klaren Auftrag. Er soll herausfinden, ob es zu verhindern gewesen wäre, dass der Terrorist Anis Amri am 19. Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lkw in einen Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben damals, mehr als 60 wurden schwer verletzt. Der Attentäter schaffte es, aus Berlin zu flüchten, und wurde in Mailand von Polizisten erschossen. Wieso haben das weder die Nachrichtendienste noch die Ermittler*innen kommen sehen?
Damit sie solche Fragen beantwortet können, müssen ihnen der Generalbundesanwalt, das BKA, Ministerien und sogar die Geheimdienste ordnerweise Schriftstücke liefern, Kommunikation offenlegen, mal geschwärzt, mal streng geheim.
Dass etwas in ihren Unterlagen fehlt, bekommen die Abgeordneten in Berlin mit, als ein Journalist recherchiert. Im Mai 2020 heißt es in einem WDR-Bericht, ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern habe sich an den Generalbundesanwalt gewandt. Vorgesetzte sollen ihm untersagt haben, Informationen über mutmaßliche Unterstützer Amris in Berlin weiterzugeben. Auch von Waffenhändlern ist die Rede, von dschihadistischen Netzwerken, jedoch alles vage.
Träfe das zu, wäre es ein mehrfacher Skandal: Der Generalbundesanwalt hatte nach dem Attentat alle verfügbaren Unterlagen aus Behörden in ganz Deutschland angefordert, warum blieben also Informationen in Schwerin liegen? Und: Warum erfährt der Bundestag erst jetzt davon?
Es ist ein seltsamer Verdacht: Ausgerechnet der kleine Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern soll Hinweise zur Vorbereitung des schlimmsten islamistischen Attentat in der deutschen Geschichte gefunden haben – um sie dann nicht weiterzugeben?
Die Ausschussmitglieder beschließen, der Sache nachzugehen. Sie fangen mit einem Puzzlestück an. Und am Ende zeichnet sich ihnen ein Bild von einem Bundesland, in dem das Innenministerium seinen Verfassungsschutz offenbar nicht im Griff hat.
Der Whistleblower
Am 26. November kommt ein Mann mit Schiebermütze in den Bundestag, aus Sicherheitsgründen nennen ihn alle hier nur T. S.. Er erscheint mit Begleitschutz.
Er war Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern, ein Agent also, er führte sogenannte Vertrauensleute, kurzum: Es war seine Aufgabe, Informationen darüber zu gewinnen, wo Extremisten möglicherweise eine Gefahr darstellen. Islamismus und Dschihadismus sind sein Fachgebiet.
Was er dem Ausschuss erzählt hat, ist geheim. Genauso wie die Vermerke, Treffberichte und Briefe, die er schrieb. Wir haben anhand von vertraulichen Gesprächen und öffentlich gestellten Fragen und Antworten rekonstruiert, wie er den Sachverhalt darstellt.
Anfang Februar 2017 erhielt T. S. einen Anruf seines Kollegen A.B.. Auch der ist V-Mann-Führer. A.B. berichtet ihm von einem Gespräch mit einer Quelle, die er schon lange regelmäßig trifft. Diese Quelle hat erzählt, was mehr als drei Jahre später den Untersuchungsausschuss beschäftigt – und das Innenministerium in Schwerin unter Druck setzt.
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Die Quelle berichtet, sie habe gehört, dass Anis Amri bislang unbekannte Kontakte in Berlin hatte. Zu einer Familie aus Neukölln. Mehrfach sei Amri bei Ihnen zu Besuch gewesen, vielleicht habe er auch in einer ihrer Immobilien gewohnt. Die Familie ist bekannt, sie soll Verbindungen in die organisierte Kriminalität haben. Nun könnten sie also auch noch Amris Unterstützer gewesen sein. Dann aber berichtet die Quelle von noch brisanteren Details: Die Familie hätte Amri für den Anschlag beauftragt und nach der Tat zur Flucht nach Holland verholfen. In einem schwarzen Auto. Von einer Belohnung sei die Rede gewesen, Bargeld in einer Tasche oder einem Sack.
Zu diesem Zeitpunkt, wenige Wochen nach dem Attentat, gilt Amri als Einzeltäter. Und als Islamist. So erklären sich Behörden die Tat. Die Informationen, die die Verfassungsschützer in Mecklenburg-Vorpommern hören, kratzen sehr an dieser Darstellung.
T. S. informiert seinen Referatsleiter über diese Wendung. Etwa drei Wochen später geht ein Vermerk an das Bundesamt für Verfassungsschutz raus. Darin berichtet das Landesamt von der Quelle und ihren Schilderungen zu Amris Bekanntschaft in Neukölln. Von einem Anschlagsauftrag steht darin aber nichts, auch nichts über einen Fluchtwagen oder Geld.
Warum wurde dieses Wissen nicht weitergegeben?
Hier unterscheiden sich die Schilderungen. P.G., der Referatsleiter von T. S. und A.B., sagte als Zeuge im Ausschuss, er habe damals, im Februar, davon nichts gewusst. Später zweifelt er die Glaubhaftigkeit der Information an und entschied deshalb, sie nicht weiterzuleiten.
Für die andere Version gibt es zahlreiche schriftliche Belege.
Im Herbst 2019 schreibt T. S. einen Brief an den Generalbundesanwalt. Er ist drei Seiten lang, in Kopie hat ihn auch das Bundesamt für Verfassungschutz bekommen und auch der Staatssekretär im Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern. In diesem Brief schildert T. S., wie er die Information bekam und was damit geschah.
In seiner Version hat sein Vorgesetzter ihn gebeten, die Quelle erneut zu treffen. Die Schilderungen der Quelle bleiben konsistent. Trotzdem bekommen die Quellenführer T. S. und A.B. die Anweisung, das nicht zu verschriftlichen. Es folgen weitere Treffen mit der Quelle, Besprechungen mit der Referatsleitung, auch der Verfassungsschutzchef wird in Kenntnis gesetzt. Etwa zu diesem Zeitpunkt soll A.B. zurück zur Polizei versetzt werden. Die beiden V-Mann-Führer wollen ihr Wissen unbedingt weitergeben, und schreiben deshalb den Fluchtwagen und das Geld in einen späteren Treffbericht. Vor dem Ausschuss nennen sie das einen Trick. So wird ein Vermerk über den 24. Mai 2017 der erste Beleg darüber, dass die Information über Amri, über das Geld und den Fluchtwagen existiert.
Diese Variante wiederholt T. S. als er schließlich vom BKA befragt wird. Die Schilderungen seines Kollegen A.B. stimmen damit überein. Sogar die Quelle sagt bei den Ermittler*innen dasselbe aus.
Diese Version ist also mehrfach abgesichert. Oder haben sich hier drei Personen abgesprochen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten?
Der Verfassungsschutzchef
Am Donnerstagabend, 26. November, kommt es zu einem Auftritt, über die langjährige Abgeordnete sagen: An so etwas können sie sich nicht erinnern. Benjamin Strasser von der FDP wird von einer „vordemokratischen Haltung“ des Innenministeriums in Mecklenburg-Vorpommern sprechen.
Es ist zwanzig vor Acht, im Europasaal im Paul-Löbe-Haus läuft die Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Breitscheidplatz schon seit ein paar Stunden. Der Zeuge wird hereingerufen, Ministerialdirigent Reinhard Müller, 64, Chef des Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern seit 2009. Sein Amt ist direkt im Innenministerium angesiedelt, er ist Abteilungsleiter. Früher war er lange bei der Polizei.
Müller hat einen Rechtsbeistand dabei und Aktenordner. Schräg hinter ihm sitzt die Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eine Juristin. Ihre Aufgabe ist es darauf zu achten, dass der Zeuge keine Dinge sagt, die von seiner Aussagegenehmigung nicht gedeckt sind. Bei der letzten Sitzung hat diese Aufgabe der Justiziar des Innenministeriums übernommen, aber er wurde des Saales verwiesen, weil er selbst in den Fall involviert war.
Müller liest sein Eingangsstatement vor. Die Vorwürfe seien unzutreffend sagt er, die zu Amri vorliegenden Informationen seien in sich nicht schlüssig gewesen und deshalb „nicht weitergabefähig“. Weitere Aussagen könne er aber nur in einer als geheim eingestuften Sitzung machen.
Als Erster ist nun ein Abgeordneter der CDU an der Reihe, er schafft anderthalb Aufwärmfragen, bis sich die Landesvertreterin zum ersten Mal meldet. „Ich muss jetzt leider intervenieren“, sagt sie. „weil die Aussagegenehmigung gegen eine Antwort sprechen würde.“ Denn: Keine Aussagen zu Personalangelegenheiten und T. S. sei ja eine Personalangelegenheit. Sie fordert den Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die Fronten sind jetzt klar. Auf der einen Seite die Bundestagsabgeordneten, die Fragen stellen wollen, weil das ihr Auftrag ist. Die das schon in 110 Sitzungen gemacht haben und die es nicht ausstehen können, wenn ein Zeuge selektiv berichtet. Auf der anderen Seite ein Verfassungsschutzchef, der nichts sagen darf oder will oder beides. Und der eine Landesvertreterin hinter sich weiß, die alles geben wird, damit er nichts sagen muss. Sie macht das gleichermaßen engagiert wie unbeholfen, dass sie manchen im Saal Leid tut.
In einer Beratungspause nimmt der Verfassungsschutzchef vor dem Saal sein Handy und telefoniert aufgeregt. Er gibt das Handy an die Landesvertreterin weiter. Das wird noch einige Male passieren an diesem Abend.
Die beiden haben mit Thomas Lenz telefoniert, dem Innenstaatssekretär in Schwerin, wie Müller später sagt. Lenz ist gerade der Chef im Ministerium, weil Lorenz Caffier Tage zuvor zurückgetreten ist, nachdem er seine Haltung zu einem rechten Netzwerk nicht erklären konnte. Es sei aber nur um die Auslegung der Aussagegenehmigung gegangen, sagt Müller. Lenz ist selbst Zeuge in dem Komplex.
Eine Landesregierung gegen den Bundestag. Geheimhaltung gegen Aufklärung. Der Ausschuss entscheidet einstimmig: Die Vernehmung wird öffentlich fortgesetzt.
Wieder meldet sich die Landesvertreterin. Sie ruft: „Oktoberfestattentat!“ Im Saal schauen sich die Abgeordneten fragend an. Der Sitzungsleiter hat gerade gesagt, dass die Vetreterin „jede einzelne Beschränkung in der Aussage“ begründen müsse. Es folgt ein Dialog, der zeigt: Die Person, die aufpassen muss, dass alles rechtmäßig läuft, hat selbst große Schwierigkeiten, sich im Recht zu orientieren.
Landesvertreterin: „Ich wollte jetzt nur sagen, dass wir in den Bereich der Quellen kommen. Und da gibt es ja das Oktoberfestattentat. Das ist ziemlich eindeutig: Sobald es sich um Quellen dreht und tiefere Information fließen sollen – also definitiv nicht in öffentlicher Sitzung.“
MdB Volker Ullrich (CDU/CSU): „Was hat das mit dem Oktoberfestattentat zu tun? Finde ich, es ist eine seltsame Bemerkung, mit Verlaub.“
Landesvertreterin: „Wie bitte?“
Sitzungsleiter: „Also, das müssen Sie jetzt begründen. Sie haben damit angefangen.“
Landesvertreterin: „Die Entscheidung – Entschuldigung – natürlich. (…) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Oktoberfestattentat. Darauf beziehe ich mich.“
Ullrich: „Auf welchen Leitsatz und auf welche rechtliche Erwägung?“
Die Landesvertreterin liest in ihren Unterlagen und nennt dann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Die Abgeordneten werden ungeduldig.
Sitzungsleiter: „Ich warte auf die Begründung. Herr Ullrich hatte nach dem Leitsatz gefragt, auf den Sie Ihre Begründung stützen.“
Landesvertreterin: „Ich darf doch kurz nachdenken, oder?“
Die Abgeordneten fragen weiter. Sie wollen nichts zur Identität von Quellen oder anderen geheime Details wissen. Trotzdem wiederholt der Verfassungsschutzchef in unterschiedlichen Formulierungen vor allem: Er sage gerne aus, aber nur in geheimer Sitzung. Die Sitzung ist wie eine Schallplatte, die hängengeblieben ist.
MdB Benjamin Strasser (FDP): „Herr Müller, die Entscheidung, den Hinweis nicht weiterzugeben, also weder an die Polizei noch an andere Landesämter für Verfassungsschutz, die haben Sie letztendlich getroffen?“
Verfassungsschutzchef: „Herr Strasser, Sie können nicht von mir erwarten, dass ich jetzt an dieser Stelle zu diesen ganzen komplexen internen Abläufen...“
Strasser: „Ich habe eine ganz konkrete Frage gestellt: Wer hat die Entscheidung getroffen? Sie oder jemand anders?“
Verfassungsschutzchef: „Ich kann diese Frage an dieser Stelle nicht beantworten.“
Strasser: „Warum nicht?“
Verfassungsschutzchef: „Ich werde sie Ihnen gerne darstellen, auch die Verläufe, die zu gewissen Entscheidungen geführt haben.“
Strasser: „Mich interessieren jetzt überhaupt nicht die Verläufe, mich interessiert die einfache Frage, wer letztendlich die Entscheidung getroffen hat.“
Landesvertreterin: „Ich verweise auf die Aussagegenehmigung. Hierbei handelt es sich um eine innerdienstliche Angelegenheit.“
Strasser: „Ja, der ganze Untersuchungsausschuss ist eine große innerdienstliche Angelegenheit.“
Es schält sich heraus, dass Müller offenbar fest davon überzeugt war, dass die Information über Amri nicht stimmte, deshalb hat er sie nicht weitergegeben. Seine Kriterien dabei: unklar. Der Ausschuss hält ihm entgegen, dass er gar keinen Ermessensspielraum gehabt habe, weil es um eine Terrorermittlung ging. Bis heute ist nicht klar, ob die Informationen zutreffend waren, aber damals hätten sie womöglich geholfen.
Müller kommt nicht nur bei rechtlichen Fragen ins Schwimmen, sondern auch bei sehr simplen. Etwa, wenn er gefragt wird, wie er reagiert habe, als er vom Berliner Terroranschlag erfahren hat. Seine Stimme ist brüchig. Er muss zwischendurch auch nachlesen, was überhaupt in seinem Eingangstatement steht. Die Zettel vor sich hat er durcheinandergebracht.
Es ist Punkt Mitternacht, als der Sitzungsleiter verkündet: Die Befragung wird abgebrochen. Er richtet deutliche Worte in Richtung Mecklenburg-Vorpommern: „Wir missbilligen das, wir teilen das nicht, wir haben eine andere Rechtsauffassung und erwarten, dass der Rechtsauffassung des Untersuchungsausschusses, die wir für die rechtmäßige halten, auch gefolgt wird.“ Wegen der verweigerten Antworten prüfe man ein Ordnungsgeld. Intern sprachen sie von mindestens 1.000 Euro.
Verfassungsschutzchef Müller sagt: „Ich bedaure den Verlauf der Beratung hier. Es war überhaupt nicht mein Ziel, Ihre berechtigten Fragen nicht zu beantworten.“ Dann bittet er: „Vielleicht können Sie über die Frage des Ordnungsgeldes auch noch mal neu nachdenken.“
Der Generalbundesanwalt
Am 11. Dezember wird Generalbundesanwalt Peter Frank im Ausschuss zu den Vorgängen befragt. Seine Behörde leitet die Amri-Ermittlungen. Über den Brief von T. S. sagt er: „Das war ein dickes Ding“ Und: „Da wendet sich einer Jahre später an uns mit der Behauptung, er hätte da Infos gehabt und die hätte er gerne ans BKA weitergegeben und das sei ihm verboten worden.“
Frank erzählt von einer Ungereimtheit in den Ermittlungen, „Loch“ nennt er das. Amri war nach dem Attentat zuletzt in Berlin gesehen worden, dann verliert sich seine Spur. Keine Videoaufzeichnungen, keine Zeugen, nichts. Erst in Nijmegen filmt ihn wieder eine Überwachungskamera am Bahnhof. Mit dieser Ermittlungslücke begründet der Generalbundesanwalt, warum sie gerne gewusst hätten, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Informationen lag, Amri sei im Auto einer Berliner Familie in die Niederlande gefahren worden. „Und selbst wenn das noch so halbseidene Erkenntnisse sind.“
Der Verfassungsschutzchef
Als LfV-Chef Reinhard Müller am Donnerstagabend dieser Woche den Europasaal des Bundestages betritt, zieht er einen Rollkoffer voller Akten und ein neues Problem hinter sich her: Die Abgeordneten haben von einem weiteren Fall erfahren, der den Verfassungsschutz in ein fragwürdiges Licht rückt. Es geht um ein Sturmgewehr, das das LfV Mecklenburg-Vorpommern auf dem Schwarzmarkt kaufen ließ.
Um was es genau geht, dürfen die Abgeordneten nicht sagen. A.B., der zweite Quellenführer des LfV, hat es ihnen in einer als geheim eingestuften Sitzung erzählt. Das Schweriner Innenministerium veröffentlicht zeitgleich eine Pressemitteilung, die A.B.s Darstellung widerspricht. Reinhard Müller hatte daran mitgewirkt.
Dieses Mal hat Müller eine weiter gefasste Aussagegenehmigung. Er wollte von Abläufen erzählen und Einschätzungen, darlegen, warum er die Information über Amris Helfer zurückhalten wollte. Doch die Abgeordneten wollen immer wieder wissen: Was will das LfV mit einem Sturmgewehr?
Wieder geht es um seine Mitarbeiter T. S. und A. B. Aus Müllers Darstellung und eigenen Recherchen lässt sich rekonstruieren: A. B. und T. S. bestellen Müller zu einer konspirativen Wohnung, dort überraschen sie ihn mit einem Erfolg: Eine Quelle hat einen tschechischen AK-47-Nachbau auf dem Schwarzmarkt gekauft. T. S. wollte durch die Aktion Waffendepots von Islamisten finden.
Müller aber ist wütend, so erzählt er es im Ausschuss. Die Waffe ist nach seiner Überzeugung nicht zum Schießen geeignet, eine sogenannte Dekowaffe. Ein echtes Sturmgewehr, das so umgebaut wurde, dass man nicht mehr damit schießen kann. „Ich musste ihnen sagen, dass es überhaupt keinen Sinn macht, eine Dekowaffe zu beschaffen, wenn man islamischen Terrorismus bekämpfen will.“
Müller wird vom Ausschuss gefragt, ob er wisse, dass eine baugleiche Waffe beim Attentat auf einen jüdischen Supermarkt in Paris genutzt worden war. Müller fragt: „Echte oder Dekowaffe?“ Martina Renner von der Linkspartei antwortet: „Jetzt kommt der Hammer: eine Dekowaffe.“
Kurz darauf sagt Müller: „Durch eine Dekowaffe ist noch niemand erschossen worden.“
Dabei haben Islamisten Menschen mit Dekowaffen erschossen, die wieder funktionstüchtig gemacht wurden. Nicht nur im Pariser Supermarkt. Auch beim Bataclan-Attentat im November 2015, sogar beim Attentat beim Münchner Einkaufszentrum 2016. Das müsste ein Verfassungsschutzchef wissen.
Rechtlich ist es mindestens fragwürdig, ob Quellen für den Verfassungsschutz Kriegswaffen kaufen dürfen. Auch der Umgang des Verfassungsschutzchefs mit der Waffe irritiert. Er lässt erstmal nicht untersuchen, ob sie wieder funktionsfähig gemacht werden könnte. Stattdessen will er, dass die Waffe vernichtet wird.
Im Ausschluss schiebt Müller alles auf seinen Mitarbeiter: T. S. habe nach Depots in Mecklenburg-Vorpommern gesucht. Müller nennt das: „Spekulationen“, „Mutmaßungen“ und „völlig überdreht“ und muss erst daran erinnert werden, dass es tatsächlich solche Depots mit Munition und Kriegswaffen in seinem Land gegeben hat: Bei der rechten Preppergruppe Nordkreuz.
Von der tatsächlich gekauften Kriegswaffe erfährt die Polizei jahrelang nichts. Erst als T. S. sich an den Generalbundesanwalt wandte, stellt Müller fest, dass die Waffe noch immer in seinem Amt lagert. Er schickt sie zur Überprüfung ans LKA. Im Ausschuss kann er nicht beschreiben, wo sie verwahrt gewesen war.
Die Parallelen sind verblüffend: Die Beschaffer T. S. und A. B. besorgen eine Information, die schwierig zu bewerten ist. Die Vorgesetzten beschließen, ihr Wissen nicht mit anderen Behörden zu teilen. Stattdessen weisen sie an, die Information gar nicht erst zu verschriftlichen – oder, so wie im Fall der Waffe – sie zu vernichten.
„Ich habe noch eine andere Frage“, sagt Müller, als ihn der Vorsitzende am Ende der Fragerunde entlässt. Ob denn der Ausschuss schon über das Ordnungsgeld entschieden habe?
Der Staatssekretär
Es ist fast Mitternacht am Donnerstag dieser Woche, als Thomas Lenz als Zeuge den Europasaal im Bundestag betrifft. 60 Jahre alt, CDU, seit 2006 Staatssekretär im Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern. Er kam mit Innenminister Caffier und blieb, als der zurücktrat.
Lenz entschuldigt sich für den ersten Auftritt seines Verfassungsschutzchefes. Er sagt, dessen Aussage „war nicht in Ordnung.“ Und: „So wie das hier stattgefunden hat, war das nicht beabsichtigt.“ Die Informationen über Anis Amri nicht vollständig weiterzuleiten „war fachlich noch vertretbar“. Er nennt es trotzdem einen Fehler.
Dann vernichtet er T. S. Einen Mitarbeiter also, der erst jahrelang Teil der Landespolizei und dann mehr als 15 Jahre im Landesverfassungsschutz gearbeitet hatte, bevor man ihn schließlich nach den Vorgängen in 2017 zurück zur Polizei versetzte, auf einen Schreibtischposten. Lenz spricht von „ein paar James-Bond-Filmen zu viel“. Er sagt, er möchte ja kein einseitiges Bild zeichnen. T. S. sei ja auch ein Mitarbeiter „der sich einen großen Dienst“ zuschreiben können, die Vereitelung eines Anschlags 2004 in Berlin. Er betont das Wort „einen“ und lässt es lange stehen.
Im Herbst 2019 hatte sich T. S. persönlich an den Staatssekretär gewandt. Er schilderte ihm die Sache mit der Quelle und den liegengebliebenen Informationen. Wie er seit Jahren versucht habe, erst seinen Referatsleiter, dann den Verfassungsschutzchef selbst zu überzeugen, das brisante Wissen weiterzugeben. Lenz sagt darüber: „Herr S. machte dann etwas, was ich in 14 Jahren nicht erlebt hatte. Er versuchte, umgangssprachlich ausgedrückt, mich zu erpressen.“ T. S., so sagt er es dem Ausschuss, habe angekündigt, zum GBA zu gehen, wenn Lenz ihn nicht auf seinen alten Posten zurückversetzt.
T. S. ging zum GBA.
Als Lenz schimpft, dass die Grünen und andere ihn und die Arbeit seines Landes vorführten, werden die Abgeordneten unruhig. Es ist schon spät, die Sitzung gleich vorbei. Sie bekommen heute keine Gelegenheit mehr, Fragen zu stellen. Die heruntergeratterten Worte des Staatssekretärs aus Mecklenburg-Vorpommern bleiben hier heute als letzte stehen.
FDP-Politiker Strasser steht auf und geht.
Linken-Politikerin Martina Renner geht.
Die Abgeordneten der Grünen gehen.
Die SPD geht.
Draußen werden sie der Presse von „gravierenden Vorgängen“ berichten. Sie wundern sich über den Widerspruch, erst Fehler einzugestehen, dann aber den Whistleblower, der diese Fehler aufdeckte, öffentlich zu diskreditieren. Die Grünenpolitikerin Irene Mihalic sagt zu diesem Vorgehen vor Journalistin*innen: „Mich lässt das fassungslos zurück“ Benjamin Strasser sagt sogar: „Deshalb sollte sich der neue Innenminister Gedanken machen, ob er noch mit so einem Behördenleiter arbeiten möchte.“
Im Sitzungssaal bricht Thomas Lenz seine Rede ab, mehrere Seiten liegen ungelesen vor ihm, er packt sie in eine Mappe mit goldenem Landeseblem. Eigentlich wollte er sein Statement veröffentlichen und an die Presse verschicken, mit allen Anschuldigungen, Tiraden und Passagen aus eingestuften Unterlagen. Ausgesuchten Journalist*innen in Schwerin hatte er bereits am Vortag seine Sicht der Dinge erläutert. Der Ausschussvorsitzende weist verwundert darauf hin, dass der Ausschuss entscheiden dürfe, was veröffentlicht werde – und was nicht. Dann ist Mecklenburg-Vorpommern vorerst entlassen.
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