Weihnachtsmänner, Weihnachtsfrauen (2): Teller bunte Knete
■ Heute: Der Heiligabend bei Urdrü
Wenn dieser Tage aus den Räumlichkeiten der Galerie des Westens in Walle innig gesungene Weihnachtsweisen gen Himmel steigen, kann man sicher sein, daß er den Taktstock führt: Ulrich Reineking-Drügemöller, Kabarettist, Kolumnist und Fachjournalist (Spielautomaten). Wer aber glaubt, da machten sich irgendwelche Anarchos übers Christfest lustig, täuscht sich und wird gern belehrt: „Das ist keine Verballhornung! Da lege ich viel Wert drauf.“ O Tannenbaum, Leise rieselt der Schnee: „Ich will die Sentimentalität auf den Gipfel treiben.“ Sein Publikum schluckt die Kröten mit Inbrunst, bisweilen auch Unverständnis: Es ist ein Ros entsprungen wirft bei manchem beinharten Punk heutezutage Verständnisschwierigkeiten auf.
An der Haustür hängen Silbersterne und Strohherzen; in der Küche brennt die adventlich korrekte Anzahl von Kerzen im Tannengrün. Der winzige Linus hat das Geheimnis des Adventskalenders („Da, da!“) längst ergründet: Haribo und (Diabetiker-)Pralinen. Es herrscht Adventsbesinnlichkeit bei Urdrü; Heiligabend wird es einen Weihnachtsbaum geben, ganz ohne Frage, auch Lieder und einen Gottesdienstbesuch.
Im Gegensatz zu zahllosen Altersgenossen, die von ihren Eltern mit Weihnachtsfeierlichkeiten überschüttet wurden, erinnert sich Ulrich eher an Verluste. Als er 15 war, hatten seine Eltern keine Lust mehr auf das Gedöns „nur der Kinder wegen“. Erst fiel zum Bedauern des Jungen der Nikolausschuh aus. Später haute man sich Heiligabend in einem Landgasthof die Wampe voll. Selbst der Weihnachtsbaum wurde gestrichen. Für die Eltern im übrigen eine logische Konsequenz aus dem Lebensstil ihres Sprosses: Unabhängiger sozialistischer Schülerbund, Ostermarsch, APO – aber Weihnachten feiern wollen!
Zu seinem Recht auf den Baum kam Ulrich wieder „in der Walde“, einer Berliner Großkommune. Der Christbaum hatte einen schwarzen Stern und war – Ehrensache – von der AOK geklaut. Weihnachtsmusik eher gedämpft, bis dann life auftraten „Teller bunte Knete“ und die „Outlaws“ („50 Jahre Knast auf der Bühne“). Man aß Hammel und ging hinterher zu den jeweiligen Eltern (der Knete wegen).
Urdrüs Spiritualität („Ich bete heute noch“) neigt zur Verzückung; in fremden Städten unterwegs, wärmt er gern sein Herz bei Vereinigungen entschiedener Christen, die durchaus in Zungen reden dürfen. Was er zum Leben braucht, ist die Hoffnung auf Erlösung aus dem Jammertal. Sein Traum ist, ein Jahr lang als Wanderprediger umherzuziehen. Mit Orgel. Menschenfischer sein. BuS
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