: Telefonseelsorge - andersherum
■ Weil er katholische Pfarrer am Telefon zum „Urchristentum“ bekehren wollte, sollte ein Landwirt in die Psychiatrie oder mit Medikamenten ruhig gestellt werden / Freispruch: „Keine Nötigung“
Aus Frankfurt Michael Blum
Landwirt V. aus dem hessischen Seligenstadt ist „ein einfacher Mensch mit Kinderglauben an die katholische Kirche, an die Idee des Urchristentums ohne Institutionen wie der des Papstes“, so der Vorsitzende der Ersten Strafkammer des Landgerichts Darmstadt, Brisch. Der „bibelkundige“ ältere Mann versuchte seit 1982 die beiden Pfarrer der katholischen Gemeinden Seligenstadts und den Gottesmann aus dem benachbarten Ober–Roden per Telefon von dem Irrweg einer „institutionalisierten katholischen Kirche“ überzeugen. Per Telefon - und bis zu sechzig Mal pro Seelsorger, täglich. Der „sehr religiöse Mensch“ (Brisch) forderte die Abkehr der Klerikalen von der Schulkirche, brach die Hostie eigenhändig vor dem Altar und vertrat seine Ansichten auch schon mal von der Kanzel. Nach zahlreichen Telefonaten zwischen vier Uhr früh und nach Mitternacht erlitt ein Pfarrhirte einen Nervenzusammenbruch, zuvor war er unter anderem von V. als „Satanspriester“ bezeichnet worden. Die beiden anderen wollten künftighin ihre Ruhe - es kam zur Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft: Der Landwirt sollte wegen Nötigung der geistlichen Herren in eine Psychiatrie. Zuvor hatte ein Mitarbeiter der psychiatrischen Abteilung des Stadtkrankenhauses Offenbach, Dr. Grüner, dem streitbaren Katholiken „religiöse Wahnvorstellungen“ und Schizophrenie attestiert. Die Strafkammer kam in ihrem bereits am Freitag ergangenen Urteilsspruch hingegen zur Auffassung, daß V. keine Nötigung begangen habe - dazu fehlten die Voraussetzungen wie etwa die Anwendung körperlichen Zwanges: Die Hirten hätten jederzeit ein Telefonat beenden können. Eine Einweisung käme ebenso wenig in Frage, wie die von der Staatsanwaltschaft geforderte Ruhigstellung des Angeklagten mittels entsprechender Medikamente. Es sei nicht zu verantworten, „einen einfachen Menschen“ aus seiner sozialen Umwelt zu reißen und ihm seine Existenzgrundlage zu nehmen. Die Staatsanwaltschaft wird nach Einschätzung des Vorsitzenden Richters in Revision gehen.
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