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Tauwetter in Albanien?

Von Louis Zanga

Im letzten Jahr erschien in Tirana der Roman Messer (Thikat) von Neshat Tozaj und war innerhalb von Tagen ausverkauft. In diesem Buch wird scharfe Kritik am Sicherheitsdienst „Sigurimi“ geübt: Verletzung von Menschenrechten, Gesetzesbruch, nahezu unbegrenzte Macht und Brutalität. Die Organisation ist auch früher schon gerügt worden, und zwar von „oben“, als Enver Hoxha ihre Leiter und deren Kompagnons entließ (offenbar aus dem Gefühl heraus, daß sie allzu mächtig geworden waren).

Die Kritik des Romans jedoch geht weit über die Animosität hinaus, die zwischen dem verstorbenen Diktator und seinen Rivalen existierte. Der Autor Neshat Tozaj war früher im Innenministerium beschäftigt und dürfte sich mit dem Gegenstand seines Romans außerordentlich gut auskennen. Wenn man bedenkt, daß in Albanien totale Zensur herrscht, ist das Erscheinen des Buches selbst schon interessant genug. Bedeutsamer jedoch erscheint noch die Rezension des Romans, die einer der erfolgreichsten Schriftsteller Albaniens, Ismail Kadare, veröffentlichte, der für seine relativ offene Diskussion kontroverser Themen berühmt ist. Nachdem er zunächst bemerkt, Messer sei ein wichtiges Werk albanischer Literatur, faßt Kadare dann die Handlung zusammen: Als man in Tirana ausländische Autos mit aufgeschlitzten Reifen findet, nehmen die untersuchenden Sigurimi-Leute zunächst an, daß es sich hier um einen politisch motivierten Akt von Vandalismus handelt, durch den Albaniens internationale Beziehungen zu den betroffenen Ländern gestört werden sollen. Es stellt sich jedoch bald heraus, daß eine Psychopathin die Reifen aufgeschlitzt hat und der Fall nicht als politischer zu behandeln ist. Die Sigurimi-Leute beschließen, zur Beförderung ihrer eigenen Karrieren die Angelegenheit zu verschleiern. Kadare schreibt: „Die Logik der Täuschung führt zur Verfälschung des Falles und macht aus den Handlungen einer Psychopathin eine Verschwörung. Aus der Frau wird eine feindliche Geheimorganisation, die mit ausländischen Mächten in Verbindung steht usw. usf. Um diese schwerwiegende Verfälschung durchzuführen, muß man Scheinuntersuchungen ausführen; Demokratie, Legalität und Bürger- wie Menschenrechte müssen verletzt und unentschuldbare, verfassungswidrige Verhaftungen und Erpressungen ins Werk gesetzt werden. Kurz, das Leben vieler Menschen wird unbarmherzig und skrupellos zerstört, damit eine Gruppe entarteter und sadistischer Angestellter ihr Ziel erreicht.“

Kadare zufolge ist der Roman, der sich um diese Fälschungsaktion entwickelt, eines der eindrucksvollsten Werke zeitgenössischer Literatur in Albanien. Um die zugrundeliegende politische Problematik macht der Rezensent einen Bogen und lobt statt dessen die Rolle der Partei, indem er behauptet, der Autor sei durch eine Rede Enver Hoxhas zu diesem Roman inspiriert worden. Vor dem Plenum der Partei hat Hoxha einmal geäußert, alle teuflischen Verschwörungen in Albanien seien von der Partei und nicht von der Sigurimi aufgedeckt worden.

Was die Inspriration des Autors betrifft, hat Kadare offenbar recht. Neshat Tozaj läßt in seinem Roman das Land von einer allmächtigen Staatsbehörde durch die Partei retten. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß die Partei und ihr Führer Enver Hoxha solche „Verräter“ in ihre Positionen hieven und damit ihre Aktionen möglich machen konnte, wird nicht beantwortet. Nach der vermutlich berühmtesten Säuberung - der von Mehmet Shehu und seinen Leuten 1981 und 1982 - hatte Hoxha beklagt, daß Gesetzesverletzungen in der Verwaltung innerer Angelegenheiten innerhalb der gesamten Nachkriegsperiode stattgefunden hätten. Tatsächlich sind fast alle Nachkriegsleiter der Sigurimi eines gewaltsamen Todes gestorben: Koci Xoxe 1948, Mehmet Shehu, Kadri Hasbiu und Fecor Shehu 1981 und 1982. Sie alle waren einmal Innenminister und wurden später exekutiert oder begingen, in Mehmet Shehus Fall, „Selbstmord“.

Dennoch sind die Konsequenzen, die Kadare aus dem neuen Roman zieht, die provokantesten, die in Albanien je öffentlich ausgesprochen wurden. Er verurteilt in seiner Rezension die Verletzung der Menschenrechte und Gesetze, einschließlich der traditionellen albanischen Rechtsauffassungen. Er spielt an auf die „uralten Rechtsauffassungen des albanischen Volkes“ und erwähnt den Kodex von Lek Dukagjin (Kununi Lek Dukagjin). Dieser Kodex, der von einem patriotischen Mönch aus dem Kosovo 1933 niedergeschrieben wurde, legt die ungeschriebenen traditionellen Gesetze nieder, nach dem sich die albanischen Bergbewohner zu richten pflegten. Kadare bezeichnet diesen Text als „eines der ursprünglichsten Dokumente seiner Art“.

Er fährt fort: „Dies ist ein weiterer Grund dafür, warum die Probleme von Demokratie, Achtung vor dem Gesetz und für Menschenrechte in unserem Volk wie in jeder zivilisierten Nation ein so großes Interesse hervorgerufen haben. Man kann diese Probleme nicht erklären oder mit Stereotypen beiseite wischen.“

Bis vor kurzem war jegliche Äußerung solcher Gedanken öffentlich und im Druck ein absolutes Tabu. Die Tatsache, daß Kadare dieses Thema öffentlich aufgegriffen hat, läßt darauf schließen, daß es Gegenstand vieler privaten Diskussionen ist.

Ein weiteres interessantes Element in Kadares Artikel ist seine Kritik an Politikern und allen, die sich weiterhin an „anachronistische Denk- und Handlungsweisen“ klammern.

„Eine aufrichtige Behandlung der wichtigsten Probleme eines Volkes, sei es in der Literatur oder Kunst, in Soziologie oder Journalismus, zeigt schließlich die Achtung der Autoren, der Soziologen, Wissenschaftler und Historiker vor ihrem Volk. Diese Achtung kann weder durch hohle Phrasen noch durch den inflationären Gebrauch des Wortes 'Volk‘ ausgedrückt werden.“

Am Ende seiner Rezension lobt Kadare den Romanautor dafür, wie effektvoll er diese Gruppe der Sigurimi beschreibt, ihre Machttrunkenheit, ihre Zerstörungswut und ihre eigene Höllenfahrt. Von noch größerer Wichtigkeit jedoch ist Kadare zufolge die tiefere Botschaft des Romans: daß es notwendig ist, das Böse als Böses zu benennen. Mit religiöser Bildhaftigkeit schreibt er: „Die Tatsache, daß Messer das Gewissen vieler schlagen läßt, wird die befreiende Wirkung dieses Romans beweisen. Eine Gesellschaft, die es wagt, das Böse zu verurteilen, die sich davon exorziert; selbst wenn das nicht ohne schmerzliche Einsichten vonstatten gehen kann, wie sie sich in diesem Buch präsentieren - eine solche Gesellschaft zeigt, daß sie energisch Richtung Fortschritt marschiert, einen Fortschritt, den keine Macht der Welt aufhalten kann.“

Louis Zanga ist Mitarbeiter von 'Radio Freies Europa‘ in München.

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