: Tarif nur noch für Genossen?
■ In Zeiten der Murmänner: Hamburgs ÖTV-Chef Fritsch will Gewerkschaften attraktiver machen und mit Speck Mäuse fangen Von Iris Schneider
Tarifverträge, die nur für ihre Mitglieder gelten sollen, will die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) 1995 abschließen. Das kündigte der Hamburger Bezirksvorsitzende Rolf Fritsch zum Jahreswechsel vor Funktionären an. Hintergrund seines Vorstoßes: Die Attraktivität der Gewerkschaften schwindet – unter anderem deshalb, weil auch nicht-organisierte ArbeitnehmerInnen in den Genuß gewerkschaftlicher Errungenschaften kommen.
Die „Trittbrettfahrerei“ – wie Funktionäre dieses Phänomen nennen – ist den Gewerkschaften schon lange ein Dorn im Auge. Angesichts schwindender Mitgliedszahlen müsse die Gewerkschaft jetzt neue Wege in der Tarifpolitik gehen, meint jetzt Rolf Fritsch. Auch sein Kollege von der Deutschen Angestellten Gewerkschaft (DAG) Christian Zahn stimmt zu: „Die Tarifverhandlungen werden immer schwieriger, und es wird immer schwerer, die Ergebnisse in der Öffentlichkeit zu vermitteln“. Da viele Arbeitnehmerinnen den Nutzen einer Mitgliedschaft nicht mehr sähen und gleichzeitig durch höhere Abgaben wie den Solidaritätszuschlag weniger Geld zur Verfügung hätten, sparten sie an den Gewerschaftsbeiträgen. Allein in den vergangenen vier Wochen hat es bei der Hamburger ÖTV mehrere hundert Austritte gegeben, so Pressesprecher Jens Hnyk.
Eine Beschränkung der Geltung von Tarifverträgen ausschließlich für Mitglieder unterliegt jedoch engen Grenzen. Die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit – das ist das Recht, sich in Gewerschaften und Verbänden zusammenzuschließen – umfaßt auch das Recht, keiner ArbeitnehmerInnenorganisation anzugehören: die sogenannte negative Koalitionsfreiheit. Dazu gehört auch, daß niemand durch materielle Nachteile gezwungen werden darf, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden. Die geplanten exklusiven Tarifverträge könnten daher nur lohnpolitische Nebengebiete betreffen, Urlaubsgeld oder vermögenswirksame Leistungen beispielsweise, sagte Fritsch (siehe auch Interview S. 4).
Voraussetzung für solche Extras für GewerkschafterInnen ist zunächst die Einigung mit der Arbeitgeberseite. Das Hamburger Transportgewerbe hatte gestern aber noch nichts gehört von den Vorschlägen des Hamburger ÖTV-Chefs, was nur zum Teil daran lag, daß die Herren noch im Urlaub weilten. Sowohl beim Verein Hamburger Spediteure als auch beim Unternehmensverband Hafen Hamburg hielt man sich deshalb vorerst bedeckt. Im Prinzip sei die Gültigkeit der Tarifverträge ja von vornherein auf die Mitglieder der verhandelnden Parteien begrenzt, teilten beide Verbände mit. Die Unternehmen hätten allerdings die Möglichkeit, gleichlautende Verträge auch mit unorganisierten MitarbeiterInnen abzuschließen. Entsprechend glaubt Christian Zahn von der DAG auch: „Der Realitätsgehalt dieses Vorschlags ist nicht sonderlich groß“. Er hält den Vorstoß des Kollegen trotzdem für ein wichtiges politisches Zeichen. Zahn: Es müsse wieder bewußt gemacht werden, wie wichtig Gewerkschaften gerade in einer Zeit „vieler kleiner Murmanns“ seien.
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