„Tao“ von Yannic Han Biao Federer: Authentizität is over
Zwischen Hongkong und Deutschland: Yannic Han Biao Federer hat mit „Tao“ einen smarten Roman über die Verwertbarkeit von Biografie geschrieben.
„Auf der Seite und auf dem Screen herrscht ein Plot über alle anderen“, schrieb die Literaturkritikerin Parul Sehgal Anfang des Jahres im New Yorker. „Der Traumaplot lenkt unsere Neugierde nicht auf die Zukunft (Werden sie oder werden sie nicht?), sondern in die Vergangenheit (Was ist mit ihr passiert?).“
Was ist passiert? Diese Frage treibt uns um zu Beginn von Yannic Han Biao Federers Roman „Tao“. Der beginnt mit einer Trennung, der von Miriam und Tobi. Die bringt Tobi ganz schön durcheinander. Und so fährt er erst einmal weg, nach Cuxhaven und Rügen, dann ans Mittelmeer und endlich zurück ins mütterliche Freiburg. Auf Reisen fühlt sich der Erzähler genauso wenig heimisch wie dort, wo er an einer Uni arbeitet und Miete für eine trostlose Einzimmerwohnung zahlt, nämlich in der Metropolregion Köln/Bonn.
Ein zentrales Motiv dieses Romans ist das Unterwegssein. Tobis Großvater, so erfahren wir nach und nach, ist in Hongkong geboren und als Kind von einer chinesischen Familie in Indonesien adoptiert worden. Von dort emigrierte sein Sohn, Tobis Vater, nach Deutschland und nannte seinen einzigen Sohn fast immer Tobi und nur selten Tao. Tobis Vater verstarb schließlich in Hongkong, wo er sich auf die Suche nach seiner Geschichte gemacht hatte.
Morgens und in seiner Mittagspause schreibt Tobi über all das. Das Ergebnis ist die Geschichte von Alex, die etwa die Hälfte des Buches umfasst. Alex teilt vieles mit dem Erzähler. Auch sein Vater starb in Hongkong, auch seine Freundin hat ihn verlassen, auch er arbeitet an der Uni. Es gibt jedoch entscheidende Abweichungen. So scheint Alex mehr zu wissen über seine Familiengeschichte als Tobi – oder zumindest mehr preiszugeben.
Wem gehört eine Geschichte
Doch Obacht: Sind Alex und Tobi wirklich deckungsgleich? Dem widerspricht Tobis Mutter. „Das hier“, moniert sie, als sie sein Manuskript liest, „das stimmt auch nicht. Das ist falsch.“ Es verlangt der Leserin etwas ab, zwischen diesen Geschichten zu wechseln, sie auseinanderzuhalten und die Bezüge zwischen ihnen zu verstehen. Es lohnt sich.
Yannic Han Biao Federer: „Tao“. Suhrkamp, Berlin 2022. 190 Seiten, 23 Euro
Denn die Spannung zwischen Text und Intertext vermittelt nicht nur Tobis Ringen mit der Sprache. „Ich wollte nicht ich sagen, wenn ich schrieb. Und ich hatte nicht über Hongkong schreiben wollen.“ Sie stellt auch eine Kernfrage zeitgenössischer Literatur: Bestimmt die Identität der Autorin, worüber sie schreiben darf? Wem gehört eine Geschichte?
Da ist etwa Tobis bester Freund Micha. Der ist Autor, schockiert von den Repressionen in Hongkong und bedient sich an Tobis Biografie, bis es diesem zu bunt wird. „Yáns Vater ist tot? Ernsthaft?“, antwortet Tobi wütend auf eine weitere Ähnlichkeit zwischen ihm und Michas „halb-chinesischer“ Hauptfigur. Kulturelle Aneignung könnte man das nennen. Dabei eignet auch der Erzähler sich die Erfahrungen anderer an. So nutzt er Miriams Biografie zu deren Missfallen für seinen Text – oder ist das einfach das, was Schreiben immer ist? Wann wurde es verwerflich, Literatur aus der eigenen Erinnerung und Wahrnehmung zu formen?
Weil „Tao“ genau solche Fragen aufwirft, ist der Text im Text kein überflüssiges Flexen. Und so ist es am Ende sehr schön gelöst, dass dann Alex es ist, der an Tobis oder gar Yáns Stelle nach Hongkong fliegt. „Es hätte nicht anders sein können!“, denkt und fühlt man beim Lesen und freut sich. Wäre „Tao“ eine Serie, wäre dieser Plotpoint das, was man great writing nennt. Es ist hier so, dass der Antrieb der Leserin, mehr über die Vergangenheit der Figuren zu erfahren, in eine andere Neugierde überführt wird: Was wird Alex passieren? Und, vielleicht noch wichtiger: Wie schreibt sich Tobi aus seiner bedrückenden Gegenwart heraus in die Fiktion?
Shoppingmalls statt Demonstrationen
Die Clashs zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften in Hongkong sieht Tobi während seines Aufenthalts nur medial vermittelt. Vergeblich malt er sich aus, dass die Polizei ihn für einen Aktivisten halten und verhaften könnte. Dass irgendwas Einschneidendes passiert. Alex ist an dem Ort, den man Ursprung nennen könnte. Doch dort sind nur Shoppingmalls, künstlichst vermittelte Naturerlebnisse und Gerichte, bei denen er inständig darauf hofft, dass sie vegetarisch sind.
Federer hat Germanistik und Romanistik in Bonn, Florenz und Oxford studiert. 2019 erschien sein Debütroman „Und alles wie aus Pappmaché“, im gleichen Jahr erhielt Federer den 3sat-Preis in Klagenfurt. Ein zweiter Roman soll schwierig sein. Bei Federer sitzt so ziemlich alles.
Das liegt einerseits an der Sprache. Die ist zeitgenössisch, ohne dass sie bemüht wirkt. „Wenn ich Miriam leckte und sie kam, wenn sie dabei nur zur Zimmerdecke blickte, immer nur nach oben, als bezöge sie alles von dort“, heißt es einmal. Auf Deutsch so unaufgeregt und genau über Sex zu schreiben – das hat Seltenheitswert. Gleiches gilt für die Mediennutzung der Figuren. Sie sind einfach online, ohne auf eine cringy Weise die Neuartigkeit von Internetslang zu behaupten. Manchmal geraten die Sätze etwas lang, aber, pardon, es flowt.
Kunststück in Ambivalenz
Andererseits ist „Tao“ ein Kunststück in Ambivalenz. Identitäten fließen von einer in die andere, Intertext und Text führen ein bereicherndes Gespräch. Die Erkenntnis, dass niemand eigentlich wo herkommt, aber die Suche nach dieser Herkunft dann doch real, da Wirklichkeit erzeugend ist, erzählt sich überzeugend und unterhaltsam.
An der lustigsten Stelle des Buches fragt eine Sektenanhängerin Alex: „Woher kommst du wirklich?“, um kurz darauf hinzuzufügen, dass sie sich an mindestens vier Leben erinnere: „Ich war eine Geliebte von Rudolf Steiner. Und eine Magd im Burgenland.“ Authentizität ist over.
„Wir lesen Literatur zunehmend so, als ob sie real wäre“, schrieb der US-Autor Brandon Taylor kürzlich auf seinem Blog „Sweater Weather“. Diese Lektürehaltung führt Federer ad absurdum. Das Buch spielt geschickt mit den Erwartungen der Leser*innen, eröffnet doppelte Böden und endet angenehm antiklimaktisch. Eine emotionale Abrechnung bleibt aus. „Tao“ entkommt dem Fallstrick des Traumaplots, der eine Figur – oder eine Autorin – völlig auf ihre (traumatische) Biografie zu reduzieren vermag.
„Tao“ ist ein smarter Roman über das Schreiben. Über die Suche nach einer engagierten Literatur, die sich der Komplexität von Erinnerung, Identität und Sprache verschreibt. Das ist erfrischend.
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