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Tagebuch aus EstlandWie sich die Gefahren zeigen, die im Exil drohen

Unsere Autorin lebt in Tallinn. Dass sich in ihrer russischen Heimat die extreme Rechte formiert, kann sie nicht verdrängen. Die Drohung ist präsent.

Fluchtort vor russischen Nationalisten: Straßencafé in Tallinn, Estland Foto: Imago/imagebroker

I ch sitze in einem Café in Tallinn. Ich lebe im Exil in Estland, weil mich das russische System vertrieben hat. Durch das Fenster sehe ich auf eine gepflasterte Straße. Es ist sehr ruhig hier.

Auf dem Bildschirm meines Handys hingegen herrscht Surrealismus. Eine Push-Nachricht meldet, dass jüngt in der Stadt Ljuberzy bei Moskau 140 maskierte Menschen aufmarschiert sind. Es sind Mitglieder der rechtsextremen, nationalistischen Organisation „Russische Gemeinschaft“. Die Maskierten sangen das sowjetische Kinderlied „Wenn du mit einem Freund unterwegs bist“. So stellen sie sich nationale Einheit vor. Der 4. November wird in Russland schon seit einigen Jahren begangen.

Ich schaue auf die Esten am Nachbartisch und denke darüber nach, was das überhaupt für ein Feiertag ist, dieser 4. November. Früher wurde der am 7. November gefeiert – überall, in allen Mitgliedsstaaten der Sowjetunion, auch hier in Tallinn. Das war der wichtigste Tag im sowjetischen Kalender. Offiziell war es der Jahrestag der Oktoberrevolution. Der Tag, an dem „die da Unten“ „die da Oben“ gestürzt hatten.

Ein Feiertag für Putin

Der neuen Regierung gefiel dieser Feiertag anscheinend nicht. Entweder, weil mit ihm das Ende des Russischen Reiches gefeiert wurde. Oder aber, weil sie das Volk nicht daran erinnern wollte, dass es eine solche Option gibt – die Mächtigen zu stürzen.

Nationalisten lieben dieses Fest, der 4. November wurde zu ihrem Feiertag.

Auf den Feiertag zu verzichten, war aber keine Option, und Wladimir Putin setzte doch auf Stabilität. So kam es, dass der Kreml im Jahr 2005 auf einen Trick verfiel. Er tauchte in das staubige 17. Jahrhundert ein und holte das Jahr 1612 hervor. In der „Zeit der Wirren“ war es nämlich den beiden Männern Minin und Pozharski gelungen, Moskau von der Besatzung durch die polnische Armee zu befreien. Dies wird nun gefeiert, am 4. November.

Es war eine geschickte ideologische Substitution. Der gefährliche „Klassenkampf“ wurde durch die sichere und im Vagen bleibende „nationale Einheit“ ersetzt. Das Ergebnis war ein Phantomfest.

Aber dieses Phantom bekam schnell Zähne. Nationalisten liebten dieses Fest, es wurde zu ihrem Feiertag. Am 4. November werden in ganz Russland „Russische Märsche“ zelebriert, Hakenkreuze werden gezeigt, „Russland den Russen“ skandiert.

Ich sitze weiter in dem Café in Tallinn und lese die Nachrichten noch einmal durch, schaue mir wieder die Videos dieses Marschs an. Mein Herz schlägt im Takt der Schritte. Die Polizei greift nicht ein – sie unterstützt vielmehr den Aufmarsch. Die Marschierenden bejubeln den Krieg in der Ukraine. Sie sind für Russen, und sie sind gegen Migranten.

Wie der Kreml den Drachen erst groß machte

Dieser gefährliche Drachen wurde jahrelang von Wladimir Putin gefüttert. Ideologisch, weil er die „Einheit gegen den äußeren Feind“ beschwor und durchaus wörtlich, denn der Kreml hat einst Nationalisten finanziert. In Moskau dachte man, dann bliebe der Drache zahm. Aber der Drache wurde nur noch gefräßiger und suchte sich einen Feind im Inneren.

Denn was ist diese „Einheit des Volkes“, die offiziell an diesem Tag gefeiert wird? In Russland gibt es mehr als 190 Völker. Es sind Republiken und autonome Bezirke, die unter nationalen Gesichtspunkten gebildet wurden. Doch im heutigen Russland gilt jedes Behaupten der eigenen Identität – ob sie tatarisch, burjatisch oder sonst wie ist – als gefährlicher Separatismus.

Das ist wohl das Wichtigste, was man über die russische Ideologie wissen muss. Der Faschismus hat aufgehört, ein Randphänomen zu sein; er ist vielmehr zu einer Form staatlicher Herrschaft geworden. Der Kreml hat jahrelang so eifrig jede Identität erstickt, dass er nicht bemerkt hat, wie die von ihm selbst groß gemachten rechtsextremen Nationalisten ihm einen neuen 7. November bescheren konnten.

Arina Kochemarova ist Journalistin aus Moskau. Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine lebt sie im Exil in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Sie nimmt an einem Osteuropa-Workshop der taz Panter Stiftung teil.

Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.

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