Tabea Rößner über Kreative und Armut: „Resultat einer verfehlten Politik“
Viele freie Kulturschaffende mehren den Reichtum der Gesellschaft, ohne am Gewinn teilzuhaben. Die Grünen-Politikerin Tabea Rößner möchte das ändern.
taz: Frau Rößner, wie viele Menschen sind derzeit freischaffend in kulturellen Berufen in der Bundesrepublik tätig?
Tabea Rößner: Viele. Die Kulturberufe machen nur einen Teil der Kultur- und Kreativwirtschaft aus, wo 2015 mehr als 1,6 Millionen Menschen erwerbstätig waren. Die Kreativwirtschaft ist ein starker wirtschaftlicher Faktor in der Bundesrepublik. Ihr Beitrag zur Wertschöpfung ist inzwischen größer als der der Chemieindustrie.
Wie hoch ist die Anzahl derer, die in prekären Verhältnissen leben?
Über die Freien in Teilbranchen wie Mode, Design, Theater, Film, Sound oder Journalismus liegen kaum systematische Daten vor. Doch sehr viele dieser Soloselbstständigen und Kleinstunternehmer leben in finanziell prekären Verhältnissen. Selbstständige mit weniger als 17.500 Euro Umsatz machen über 13 Prozent aller Erwerbstätigen in der Kultur- und Kreativwirtschaft aus. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der klassischen Kulturschaffenden, die über die Künstlersozialkasse (KSK) versichert sind, liegt bei unter 16.000 Euro.
Was meint „Soloselbstständige“, warum sagen Sie nicht Freischaffende?
Als freischaffend bezeichnet man ja vor allem Künstler und Publizisten. In der Kreativwirtschaft arbeiten aber noch viele andere Soloselbstständige. Sie machen etwa 23 Prozent der Erwerbstätigen in der Kreativbranche aus. Sie verdienen oft unregelmäßig, sind schlecht abgesichert, stellen aber dennoch einen wichtigen Faktor für unsere Gesellschaft dar. Nicht nur wirtschaftlich. Oft sind es schlecht bezahlte Freie, die uns kulturell und gesellschaftlich voranbringen.
Warum ist der Sektor der angewandten freien kulturellen und künstlerischen Berufe in den letzten Jahren so angewachsen, obgleich die Verdienstaussichten für viele so schlecht sind?
Die Digitalisierung hat vieles verändert. Arbeitsprozesse wurden flexibler, Kommunikation schneller und Produzentenzugänge offener. Der Drang, selbstbestimmt und kreativ zu arbeiten, eigene Ideen umzusetzen, ist dabei gestiegen. Gleichzeitig stehen viele traditionelle Unternehmen, etwa im Printbereich, ökonomisch unter Druck. Sie verkleinern Redaktionen oder geben zu schlechten Bedingungen Aufträge außer Haus. Die Tarife werden gedrückt.
Sie bezeichnen den ganzen kulturellen Sektor in einem Positionspapier, das sie am 22. März in Berlin vorstellen, als „Kreativwirtschaft“. Ist dieser Begriff nicht missverständlich? Sollte man nicht von Kulturarbeitern, Kulturproduzentinnen sprechen, Dienstleisterinnen in den angewandten Künsten, Text-, Bild-, Soundarbeitern?
Der Begriff des Kreativen hat sich als Oberbezeichnung für die Branche durchgesetzt. Er scheint insofern sinnvoll, will man neben den herkömmlichen auch die neuen im Zuge der Digitalisierung entstandenen Produktionsprozesse und Berufe damit erfassen.
Nun gibt es bereits verschiedene Instrumentarien wie die KSK, in die frei arbeitende Kulturschaffende vom Journalisten bis zum Künstler eintreten können, um so in der Renten- und Sozialversicherung eine Förderung zu erfahren. Warum reichen solche Steuerungsinstrumente nicht mehr aus?
Die KSK ist eine bewährte Institution. Aber es fallen viele heraus, die sich dort nicht versichern können. Soloselbstständige sind oft temporär freiberuflich tätig, dann wieder in Teilzeit angestellt oder arbeiten mal künstlerisch und mal nicht. Das verträgt sich nicht mit den Kriterien der KSK. Veranstaltungstechniker, Sound- oder Modedesigner, die kulturell nicht publizistisch oder kreativ im engeren Sinn tätig sind, passen ebenfalls nicht zur KSK. Der Begriff des „Kreativen“ soll alle Erwerbstätigen der verschiedenen Teilbranchen sammeln.
Fest angestellte und gut bezahlte Mitarbeiter staatlicher oder öffentlich-rechtlicher Institutionen – Medienanstalten, Museen, Bibliotheken, Theater – drücken bei Ausschreibungen und Auftragsvergabe oft die frei Arbeitenden im Honorar. Häufig weit unter die mit den Berufsverbänden ausgehandelten Honorartabellen. Die Konkurrenz ist groß, wer sich beschwert, kriegt keine Aufträge mehr. So wird häufig noch das mieseste Honorarangebot inklusive Rechteabtretung geschluckt. Wie wollen Sie das in Zukunft verhindern?
Wenn einmal ausgehandelte Vergütungsregeln wie zuletzt durch den Verband der Zeitungsverleger ausgehebelt werden, brauchen wir analog zum Mindestlohn auch Mindesthonorare, die nicht zu unterlaufen sind. Es kann auch nicht sein, dass man Kommunikationsgestalter zu Pitches, Vorpräsentationen, über Ausschreibungen einlädt, und am Ende bekommt nur der Gewinner ein Honorar. Wir sollten Kontrollinstrumentarien wie die Verbandsklage stärken, damit Soloselbstständige nicht auf einer schwarzen Liste landen, weil sie es gewagt haben, ihre Honorar- oder Urheberrechte einzufordern. Beim Urheberrecht brauchen wir verbindliche Schiedsverfahren. Starke, mit öffentlichen Geldern ausgestattete Player müssen wir in die Pflicht nehmen, sofern sie sich gegenüber Freien unangemessen verhalten.
Hört sich gut an, doch im Moment geschieht in der Praxis genau das Gegenteil, die Honorare werden auf Teufel komm raus gedrückt. Wie lässt sich dieser Prozess umkehren?
Man muss die Berufsverbände stärken, damit sie die Rechte der freien Produzenten besser wahrnehmen können.
Viele sagen, dass die etablierten Kulturschaffenden in den staatlichen Institutionen gut verdienen, während unten bei den freischaffenden Kulturarbeitern – sofern sie nicht prominent sind – kaum etwas ankommt. Was halten Sie von einer Offenlegung der Bezüge von Intendanten wie zuletzt in Berlin gefordert?
In den großen kulturellen Institution geht oft zu viel in die Verwaltung und zu wenig ins Programm. Dazu kommen hohe Pensionszahlungen. Dies ist Resultat einer verfehlten Politik der Öffentlich-Rechtlichen in den vergangenen Jahren. Ob ein Intendant zu viel verdient oder nicht, darüber können wir streiten. Für die Fehler der Vergangenheit dürfen aber nicht die Schwächsten, die Freien, herangezogen werden.
Ein konkretes Beispiel aus dem Kulturjournalismus: Eine freie Journalistin liest den Kriminalroman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ von Marlon James, im Herbst 2016 in deutscher Übersetzung erschienen, 860 Seiten. Sie soll das Buch auf einer halben Zeitungsseite mit 5.000 Zeichen besprechen und dafür noch O-Töne vom Autor einholen. Ein dicht bedruckter Kriminalroman und ein eher anspruchsvolles Thema: Wie viel müsste eine soloselbstständige Journalistin als Minimum für ihren Artikel bekommen?
geboren 1966, Grüne aus Rheinland-Pfalz. Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion für Medien, Kreativwirtschaft und Digitale Infrastruktur.
Hm, rechnen wir mal. Zwei bis drei Tage für die Lektüre. Recherche/Interview vielleicht ein vierter Tag. Schreiben ein fünfter. Sagen wir mal fünf Tage, eine Arbeitswoche. Also fünf Tagessätze.
Wie hoch würden Sie den Tagessatz für eine Autorin ansetzen, die sich selbst versichern muss, ein eigenes Büro unterhält und auch einmal Urlaub machen möchte?
Etwa 300 Euro als Tagessatz …? Ja, der Auftrag müsste mit 1.500 Euro honoriert werden!
Glauben Sie, dass irgendein privater oder öffentlich-rechtlicher Auftraggeber heute annähernd so viel dafür bezahlt?
Nein. Und genau da liegt das Problem. Die Gesellschaft braucht hoch qualifizierte kulturelle Arbeit in allen möglichen Bereichen, schöpft die Produzenten aber oft nur ab. Und irgendwann kann dann eine solche Leistung gar nicht mehr erbracht werden. Oder nur von Leuten, die es sich leisten können.
Wie kann man staatliche Akzente setzen, um ein weiteres Abschmelzen des Qualitätsjournalismus in Richtung Billig- und Fake-News-Sektor zu verhindern? Wie die frühere Balance zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medien wiederherstellen?
Manche plädieren für ein Grundeinkommen für Kulturschaffende. Aber ob das jemals kommt? Wir brauchen sofort bessere Vergütungsregeln und ihre Durchsetzung. Ob ein Grundeinkommen die Lösung wäre, da bin ich mir nicht sicher. Kreative wollen oft nicht staatlich alimentiert, sondern lieber angemessen vergütet werden.
Das Medium, für das ich arbeite, müsste bei gesetzlich verankerten halbwegs angemessenen Honorierungen wohl dichtmachen.
Das wollen wir natürlich nicht (lacht). In der Geschichte der taz ist vieles mit dem Begriff Selbstausbeutung verbunden. Sonst gäbe es sie gar nicht. Ich werbe prinzipiell dafür, dass der Wert von gutem Journalismus anerkannt wird und man bereit ist, dafür zu bezahlen.
Manche sagen, es gebe ein Überangebot an kulturell ausgebildetem Personal. Ob Theater, Film, Museen, Kunst, Medien, Wissenschaften, digitale Kommunikation – die Leute müssten halt etwas tun, was die Gesellschaft auch brauche, wo Nachfrage bestehe. Was sagen Sie jenen?
Es mag sein, dass wir in einzelnen Bereichen zu viele ausbilden. Aber es ist ja nicht so, dass es keine Arbeit im kulturellen Sektor gäbe, sie wird häufig nur schlecht bezahlt. Kreative neigen dazu, sich stark mit ihrer Tätigkeit zu identifizieren und sich wirtschaftlich selbst auszubeuten. Das ist auch eine Gratwanderung zwischen dem Reich der Freiheit und dem der Notwendigkeit.
Wie steht es mit einer aktiveren Verlagsförderung?
Genau das wollen die Verlage in Deutschland ja nicht, die auf ihre staatliche Unabhängigkeit pochen. Die Diskussion haben wir 2011 geführt. Dabei gibt es Stiftungsmodelle, die Unabhängigkeit und Förderung in Einklang brächten.
Viele Kulturarbeiterinnen und -produzenten verdienen gerade mal so viel, dass sie nicht aus der Künstlersozialkasse fliegen. Am Ende droht ihnen jedoch die Altersarmut. Sie haben ein Leben lang gearbeitet, werden bei der Rente aber nach unten angepasst und einer lebenslangen Erwerbslosenbiografie gleichgestellt. Ist das gerecht?
Nein, ist es nicht. Ich plädiere für eine Bürgerversicherung bei Renten- und Krankenkasse. Die Bürgerversicherung hätte zum Ziel, das aus allen Einkommen eingezahlt wird. Je nach Leistungsfähigkeit würden auch Selbstständige herangezogen, auch die Erträge aus Mieten oder Kapital. Dadurch wäre die Basis größer, und so könnte eine Rente finanziert werden, die allen ein Leben in Würde ermöglicht.
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