: TADSCHIKISCHES KALEIDOSKOP
■ Von Sargdeckeln, Koransprüchen, Wassermangel und Tod
Vom Flugzeug aus ist Tadschikistan ein ins Violette spielender grauer Fleck, 93 Prozent der Gesamtfläche sind Gebirge, die Hälfte davon höher als 3.000 Meter.
Tadschikistan ist eine der fünfzehn Unionsrepubliken der UdSSR. Zwischen Kirgisien und Usbekistan gelegen, grenzt sie im Osten an China, im Süden an Afghanistan.
Bewaldete Abhänge, karge Gipfel steil in den Himmel aufsteigender Bergmassive, tief in Schluchten eingekeilte Kischlaks (Dörfer), smaragdgrüne Wiesen an den Ufern grauer Flüsse und Serpentinenbänder, die sich wie ein orientalischer Wandschirm grell von den Pässen abheben: eine Augenweise für den Touristen. Ich war hier nie als Touristin. Aber je mehr ich mir auf Dienstreisen als Botanikerin diese Gegend im Auto und zu Fuß erschloß, desto häufiger kam mir der Gedanke, wie unwirklich und fremd das Leben hier doch ist.
So zum Beispiel der geschnitzte Sargdeckel. Er war in den Nadelbüschen links neben der Straße hängengeblieben. Bis zur Schlucht, in die man ihn hatte werfen wollen, war es noch ein gutes Stück. Der Eichensarg mit dem schwarzen Trauerflor entlang der Kanten war auf die Seite gekippt und stellte sein mit rotem Kattun ausgelegtes leeres Inneres zur Schau. Der einheimische Fahrer erklärte seelenruhig: Ja, der Mann war zu Lebzeiten ein hohes Tier, Kommunist, und hat sich beim Staat einen Sarg verdient, einige Hundert Rubel wert. Aber der Verstorbene war durch und durch bis in die letzten Fasern seines Herzens Moslem geblieben und mußte bestattet werden, wie es Brauch ist: nur mit dem Totenhemd bekleidet, ohne Sarg. Der überflüssig gewordene Dekor war dahingeflogen, wohin er eigentlich auch gehört.
Während man die einen nach altem Brauch bestattet, wird anderes schlicht vergessen, obwohl doch das Wohlergehen der Lebenden direkt davon abhängt. Gemeint sind die Lehmhäuser der Bauern. Der Tradition nach muß so ein Haus, wenn seine Zeit vorbei ist, wie ein Familienmitglied beerdigt werden. Man trägt die Wände ins Feld und vergräbt sie. Was von der Erde stammt, gibt man der Erde zurück. Ein weiser Brauch: Die Wände sind stark salpeterhaltig, optimaler Dünger. Sie vermischen sich mit dem Ackerboden, den sie anreichern, um nach einiger Zeit erneut zur Wohnung zu werden. Ein kontinuierlicher Kreislauf von Natürlichem und Menschlichem, jetzt unterbrochen. Die Kischlaks sterben zusehends aus; es ist keiner mehr da, der der ausgelaugten Erde die Lehmwände übergeben könnte. Die Soziologen nennen das: Verlust des bäuerlichen Arbeitsethos. Doch vieles kommt hier zusammen. Die Vergangenheit löst sich eben nicht sang- und klanglos in Nichts auf, und die von ihr geprägten sozialen Normen lassen sich nicht von heute auf morgen umkrempeln.
So kommt denn auch kaum jemand auf die Idee, das obligatorische Maskottchen auszutauschen, das an der Windschutzscheibe eines jeden verstaubten Autos prangt: ein Schwarzweißfoto mit dem liebevoll kolorierten blutroten Vampirmund von Stalin, dem „Führer aller Zeiten und Völker“. Ökologische Katastrophe
Zwei Stunden zu Fuß vom Lager der Botaniker wirft ein brauner Felsbrocken seinen finsteren Schatten auf die darunterliegende Straße; auf der Spitze des Steins hat seltsamerweise ein Aprikosenbaum Wurzeln geschlagen. Gegenüber, links von der Straße, schäumt ein Fluß über die Steine des Steilhangs und verschwindet plötzlich im Erdboden. Es dauert lange, bis er wieder an der Erdoberfläche auftaucht.
Es ist noch gar nicht lange her, da schmiegte sich an dieser Stelle ein Kischlak an den Berg. Ein ganz gewöhnlicher, wie unzählige andere: mit dem einförmigen, ärmlichen Alltagsleben und seltenen Festtagen. Für die Männer fiel zwar öfter ein Feiertag ab. Einmal im Monat zogen sie sonntags zum sechzig Kilometer entfernten Basar.
Wie immer machten sich eines Tages alle Männer des Kischlaks lange vor Tagesanbruch auf den Weg, begleitet vom Schrei eines vorzeitig erwachten Hahns. Als sie zurückkehrten, gab es das Dorf nicht mehr. Felsbrocken und Schlamm eines fürchterlichen Erdrutsches hatten alles unter sich begraben. Einziger Überlebender: der Fluß. Jeden Morgen stimmt an dieser Stelle der Hahn sein Klagelied an. Ein unwirklicher Vogel über den für alle Zeiten zugeschütteten Ruinen. Das erzählte der Wächter unseres Lagers, Chol, der aus dem untergegangenen Kischlak stammt. Er hatte seine Frau und fünf Kinder zurücklassen müssen.
Was man in der Fachpresse als geodynamische Prozesse bezeichnet, das sind Schlammlawinen und Erdrutsche, die mit jedem Jahr mehr und mehr Bergdörfer zerstören. Der Grund? Eine ökologische Katastrophe ist ereignet sich. Manchmal findet man scheinheilig den „Schuldigen“, der in Wirklichkeit nur die Spitze des Eisberges darstellt: den häuslichen Herd. Nicht den poetischen, Symbol des Heims, sondern den Herd, der eine Realie des harten Alltags in Tadschikistan ist, seit Urzeiten bis auf den heutigen Tag. Das einzige, das in die kalte Behausung Wärme bringt, ist der Herd. Ununterbrochen muß er brennen. Das heißt, er verbraucht viel Brennstoff. Nach Tadschikistan wird fast keine Kohle importiert. Zwar formt man in den Kischlaks aus Mist runde Fladen, mischt sie mit Stroh, trocknet sie und klebt sie fein säuberlich in ordentlichen Reihen an die Hauswände. Aber mit wieviel getrocknetem Mist kann man sich schon eindecken? Es muß Brennholz her, das heißt Bäume, die mit ihren Wurzeln die Abhänge festhalten und die Hauptsicherung gegen die Erdrutschgefahr sind. Ausgerechnet sie werden unerbittlich abgeholzt. Zwar brannte der Herd auch früher. Aber früher holzten die Leute eben nicht nur ab, sondern pflanzten auch an. Heute ist das nicht mehr der Fall. In den Bergen wächst die Zahl der von Schlammlawinen bedrohten Zonen, und niemand weiß Rat. Koran gegen Wasserfluten
Unter unserem Lager - der Höhenunterschied betrug anderthalb Meter - floß der Bergfluß Siddinka. Normalerweise kam man an das von Eisenoxyden rötliche Wasser über in den Fels gehauene Stufen. Und an ihnen war auch das nahende Unglück zuerst abzulesen: Aufgrund anhaltender Regengüsse verschwanden sie unter hohen, schmutzig-grauen Wellen. In der Nacht floß die Siddinka bereits durchs Lager und drang in die niedrigen Häuser ein. Wir hatten keine Ahnung vom Ausmaß der drohenden Überschwemmung und brachten, anfangs noch fröhlich, Herbarien und unsere Sachen in Sicherheit, schleppten die schweren Eisenbetten den Berg hoch. Aber im Morgengrauen riß der Fluß in einem neuen Ansturm die Küche mit sich, einen Betonbau, den man erst im Vorjahr errichtet hatte. Das Lachen verging uns. Da bat Chol einen Bulldozerfahrer, flußaufwärts einen Damm aufzuschütten, der dem mächtigsten Wasserstrom den Weg zum Lager abschnitt. Der Damm hielt sechs Stunden. Der zweite hielt länger stand, aber obwohl wir ihn zusätzlich mit den Metallfederrosten der Betten befestigten, gab auch er am Morgen des nächsten Tages nach. Am dritten Damm aber, der einen wahnwitzigen Wasserdruck auszuhalten hatte, stand Chol lange ins Gebet versunken, wühlte dann mit den Händen in der feuchten Erde und vergrub seinen Koran darin. Dieser Damm hielt. Was der Grund war? Wer weiß. Nur wer von uns wäre in solch einer Situation nicht bereit, an ein Wunder zu glauben. Und am übernächsten Tag brachte eine grelle Mittagssonne, wie es sie nur in Asien gibt, das dünne Rinnsal, das durch unser Lager floß, zum Funkeln. Und nur die von der Strömung verbogenen Stahlträger, die aus den Häusern ragten, und das mit wässrigem Schlamm gefüllte Betonbassin, die Überreste der Küche, erinnerten an die tosenden Wassermassen.
Beim traditionellen Abschiedsessen der Botaniker im Herbst fragte ich Chol, wie teuer wohl ein Koran sei. Er dachte nach und meinte: „Na, für 300 Rubel kriegt man bestimmt einen.“ Und fügte hinzu - er hatte offenbar meine unausgesprochene Frage verstanden: „Wer hier Gutes tut, dem wird es im Jenseits vergolten, sagt der Koran.“ Wir verloren uns aus den Augen. Ein Jahr später erfuhr ich, daß Chol nicht mehr lebt. Ich hörte auch von den näheren Umständen. Wasserfrevel und Tod
Drei Serpentinen vor dem Ansob-Paß ergießt sich ein Gletscher an der Straße in einen winzigen Wasserfall. Dieser Wasserfall speist einen kleinen See. Und aus diesem See fließt ein ungewöhnlicher Bach waagerecht zum Hang und nach unten. Er verzweigt sich wie die Fäden eines Spinnennetzes in Dutzende von Wassergräben an den Weideplätzen. Wasser in den Bergen: Das bedeutet Leben. Hüfthohes Gras: Das heißt, es gibt Milch und Fleisch. Denn kaufen kann man Viehfutter nicht; etwas übrig hat keiner. Man kann nur auf das zählen, was man selbst anbaut. Auch Wasser gibt es kaum und Regen ist eine Seltenheit. Deshalb sind kilometerlange, aus Zweigen geflochtene Rinnen am Berg aufgehängt, die in raffinierte, in den Fels gehauene Gräbensysteme übergehen. Jedes Feld hat seinen eigenen Graben. Die Leute kommen am frühen Morgen zur Verteilerstelle, die bis zu 100 Kilometer von ihrem Kischlak entfernt sein kann, und leiten das Wasser auf ihre Felder. Die Menge, die zur Verfügung steht, ist im Grunde minimal, vielleicht 50 Kubikmeter pro Stunde. Und so nimmt es nicht wunder, daß es eiserne Absprachen gibt, wer von wann bis wann für seine Parzelle Wasser entnehmen darf.
Chol aber hatte es sich an jenem Tag, nachdem er das Wasser zu seinem Feld dirigiert hatte, im Schatten bequem gemacht und war eingeschlafen. Und das Wasser lief und lief. Als sein Nachbar Saifitdin ihn da schlafend fand, erschlug er Chol mit einer Hacke.
„Und keine Kränkung, und sei sie auch so winzig wie die Rille eines Dattelkerns, wird den Gerechten treffen“, heißt es im Koran. Nur woher einen Gerechten nehmen.
Ljudmila Duwidowitsch
Aus dem Russischen von Birgit Veit
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen