Syrische Flüchtlinge: Tod im Krieg oder Tod im Meer
Eine halbe Million Syrer sind in die Türkei geflohen. Jetzt ist die Grenze dicht. Viele Flüchtlinge wollen weiter – nach Europa. Eine gefährliche Reise.
ATMA/GAZIANTEP taz | An Zweigen eines Olivenbaums, einstmals Symbol des Friedens, hängt eine Kinderschaukel. Leer. Zwischen den Wurzeln der alten Bäume sitzen vom Krieg besiegte Familienväter im Kreis. Sie trinken Tee aus Gläsern und rätseln zwischen einer Zigarette und der nächsten über die Zukunft. „Syrien will uns nicht, die Türkei ebenso wenig. Wohin sollen wir also gehen? Sie behaupten, wir seien Terroristen. Ich sehe nur Frauen und Kinder um uns herum. Sind das die Terroristen?“
Aala ist vor drei Tagen aus Dairat Azza in Atma eingetroffen, mit einer Verletzung am Rücken. Ein Bombensplitter hatte sein Haus getroffen. Von seinem Zelt aus kann man die Grenze gut erkennen, die nur vierhundert Meter entfernt liegt. Sie hat die Gestalt eines Eisengitters, das den Gebirgskamm durchzieht wie die Narbe einer alten Wunde. Doch von den Olivenbäumen in Atma aus ähnelt sie eher einem Käfig. Denn im letzten syrischen Dorf vor der Grenze zur Türkei bei Rihanli stecken tausende Zivilisten auf der Flucht inmitten von Feldern in der Falle.
Die Türkei, die bereits 540.000 Syrer in Flüchtlingscamps beherbergt, hält seit einiger Zeit ihre Grenzen geschlossen für alle Syrer, die keinen Reisepass besitzen. Und so haben allein in Atma in der Provinz Idlib mehr als 20.000 Flüchtlinge Zuflucht gefunden, dreimal so viel wie die 7.000 Einwohner der Stadt. Sie haben ihre Zelte auf der roten Erde unter den Olivenbäumen zwischen den Hügeln längs der Grenze aufgeschlagen. Dies ist der zweite Winter, der ihnen im Camp bevorsteht.
Die zuletzt Eingetroffenen haben nur Stoffbahnen, die zwischen die Bäume gespannt sind, um ein Mindestmaß an Intimität zu gewähren. Wer es besser getroffen hat, schläft im Zelt. Türkische Wohltätigkeitsorganisationen spenden Essen und Medikamente, doch es gibt nie genug.
Im Lager leben überwiegend Frauen und Kinder. Sie kommen aus Rastan, Dschebal Akrad, Homs, Hama, Aleppo und sogar aus Damaskus. Sie sind den Luftangriffen auf Zivilisten entkommen und den Massakern in den aufständischen sunnitischen Ortschaften, die Soldaten des Regimes von Baschar al-Assad verübt haben. Die Angst derjenigen, die zu viel Blut haben fließen sehen, ist ihnen in die Augen geschrieben.
Heimlich verwundete Kämpfer gepflegt
Osama lebt schon seit einem Jahr im Lager von Atma. Er ist Krankenpfleger, 35 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder. In Kafr Awid, einem Dorf in der Provinz Idlib, hatte er bei sich zu Hause eine provisorische Krankenstation eingerichtet, um heimlich verwundete Kämpfer zu pflegen. Als im September 2012 mehr als 20 Zivilisten durch einen Luftangriff ums Leben kamen, beschloss er aufzugeben und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Auch weil ihm ein Haftbefehl drohte, was in solchen Zeiten einer Todesstrafe gleichkommt. Denn in diesem Krieg macht man keine Gefangenen.
Im Flüchtlingscamp von Atma gibt es jedoch nur wenige Aktivisten wie Osama. Die Mehrheit der Menschen, die fliehen, hat in Wirklichkeit nie Partei ergriffen. Weder für die Revolution noch gegen das Regime. Ihre Partei ist der Frieden. Sie fliehen, um ihr Leben zu retten, bevor es zu spät ist.
Die meisten Frauen tragen Trauerkleidung. Sie beklagen den Tod ihrer Ehemänner, die auf beiden Seiten der Front gekämpft haben. Einige sind Witwen von Kämpfern der Freien Syrischen Armee (FSA), andere waren mit Soldaten des Regimes verheiratet. In ihren Augen ist das kein großer Unterschied. Die einen wie die anderen nennen sich Märtyrer. „Ich bin weder für noch gegen das Regime“, sagt Fatima, eine Witwe. „Assad bombardiert uns, und die von der FSA vergewaltigen uns. Aleppo war ein Schmuckstück. Heute gibt es keinen Strom mehr, kein Gas, kein Wasser, kein Telefon, gar nichts. Fünf Kinder habe ich, mein Mann ist bei einem Bombenangriff gestorben und ich muss um Brot betteln. Wie konnte es bloß so weit kommen? Wer hat in die Herzen unserer Kinder solchen Hass gesät? Sind nicht auch unsere Söhne eigentlich Soldaten des Regimes?“
Die Stimme versagt
Fatimas Stimme versagt, weil sie plötzlich zu schluchzen anfängt. Nun drängen sich die Kinder vor. Scharen sich neugierig um das Mikrofon des Reporters. Jedes will seine Geschichte von dem Krieg erzählen.
Sie erzählen von ihren Toten mit einer beunruhigenden Selbstverständlichkeit. Amina hat ihren Cousin verloren: „Baschars Flugzeuge haben unser Dorf bombardiert. Mein Cousin starb dabei. Der erste Märtyrer unseres Dorfes. Eine Bombe traf ihn vor seinem Haus. Wir haben alles gesehen.“ Oula hingegen haben sie gesagt, der Herrgott habe sie geschützt: „Die Bombe fiel aufs Dach, ging durchs Zimmer und nach draußen. Wir waren gerade zum Spielen in den Garten gegangen. Verstehst du? Die Bombe hat das ganze Haus zerstört. Aber wir waren im Garten. Gott hat uns beschützt, weil wir klein sind.“
Die 20.000 Flüchtlinge in Atma sind nur ein winziger Tropfen im großen Strom der aus Syrien Fliehenden. Nach Angaben der Vereinten Nationen befinden sich etwa 2,3 Millionen Syrer in den Flüchtlingscamps der Nachbarländer Türkei, Jordanien, Irak, Libanon und Ägypten. Nicht eingerechnet die fünf Millionen Binnenflüchtlinge in Syrien selbst und die Hunderttausenden, die sich ins Ausland abgesetzt haben, ohne politisches Asyl zu beantragen.
Durchgangsstation Türkei
Abu Mohammad ist einer von ihnen. Er lebt in Gaziantep im Süden der Türkei, zusammen mit seiner Frau Sultana, drei Töchtern und einem Baby. Der kleine Mohammad, Sohn der Hoffnung, zu Beginn der Revolution gezeugt und vor acht Monaten, mitten im Krieg, zur Welt gekommen. Er kann zwar noch nicht laufen, aber kennt bereits die Revolutionslieder. Wenn seine Schwestern „Nahnu Biddna al Hurriye“ („Wir wollen die Freiheit“) anstimmen, beginnt er zu lächeln und klopft sich auf die Knie. Seinem Vater Abu Mohammad gefällt die Szene. Seine Frau betrachtet ihn mit weichen Zügen. Als sei es das erste Mal. Oder vielleicht das letzte Mal. Denn Abu Mohammad wird nach Syrien zurückgehen – unbewaffnet. Vor ein paar Monaten hat er die Freie Syrische Armee verlassen, nun arbeitet er für ein freies kurdisches Radio, das nach Aleppo und Umgebung sendet.
„In Syrien mit einem Mikrofon zu arbeiten, ist gefährlicher, als mit der Kalaschnikow herumzulaufen. Ich bange nicht um mein Leben, ich bin bereit, für mein Land zu sterben. Aber mich quält die Frage, was mit meiner Frau und den vier Kindern passieren wird, wenn sie alleine zurückbleiben.“
Deswegen möchte Abu Mohammad sie nach Europa schicken, wo sie, so hofft er, Unterstützung vom Sozialstaat erhalten würden für den Fall, dass er ums Leben kommt. Er besitzt ein Einladungsschreiben, das er bei der italienischen Botschaft in der Türkei eingereicht hat. Aber das dürfte nichts bringen. Für ein Schengen-Visum verlangen die Behörden aktuelle Kontoauszüge, einen Arbeitsvertrag, einen festen Wohnsitz, Geburtsurkunden der Kinder und tausend andere Dokumente, die Abu Mohammad nicht beibringen kann. Obwohl sie alle einen gültigen Pass besitzen, sogar die drei Töchter. Und obwohl sie zur syrischen Mittelschicht gehören, in Gaziantep in einer Mietwohnung leben, Mohammads Frau Englisch in einer Grundschule unterrichtet, Abu Mohammad fürs Radio arbeitet.
All das reicht nicht. Sich in Europa frei zu bewegen, ist das Privileg weniger. Nun muss Abu Mohammad die schwierige Frage entscheiden: Vertraut er seine Frau und die Kinder den Schmugglerbanden an und hofft, dass sie lebend in Italien ankommen?
Man muss nur fragen
Es gibt zwei Routen. Die eine geht vom ägyptischen Alexandria aus, die andere beginnt in Zuwara, Libyen. Beide enden auf den italienischen Inseln Lampedusa und Sizilien. Von Istanbul gehen täglich Flüge nach Kairo und Tripolis. Einmal dort angekommen, muss man nur herumfragen, um mit den Schmugglern in Kontakt zu kommen. Es ist ein riesiger Umschlagsplatz, alles geschieht am helllichten Tag.
In den ersten zehn Monaten des Jahres 2013 sind bereits 10.000 Syrer auf den Routen der libyschen und ägyptischen Schmugglerbanden nach Sizilien oder Lampedusa gelangt, auf völlig überfüllten alten Fischerbooten, mit 300 oder 400 Passagieren auf einmal. Noch mehr Flüchtlinge werden in den nächsten Monaten eintreffen. Andere werden bei der Überfahrt sterben. Denn die Reisen sind äußerst gefährlich. Das letzte schreckliche Schiffsunglück geschah am 11. Oktober 2013, als 60 Meilen vor der italienischen Insel Lampedusa ein Schiff mit 400 Passagieren an Bord während der Rettungsaktion gekentert ist – 194 Menschen starben, darunter Dutzende Kinder.
Die Opfer dieses Schiffsunglücks waren alle Syrer. Abu Mohammad weiß von der Tragödie, aber schenkt ihr keine besondere Beachtung. Letztlich ähnelt der Tod im Meer allzu sehr dem Tod im Krieg.
Aus dem Italienischen von Sabine Seifert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste