: Surrealismus mit Spiegelei
Beißender Humor, absurde Kombinatorik und performativer Szenenwitz: In Hannover zeigt die aktuelle Kurt Schwitters-Preisträgerin Mika Rottenberg Videokunst und Installationen
Von Bettina Maria Brosowsky
Der in Paris wohnhafte Schweizer Thomas Hirschhorn, die 2014 ebendort verstorbene US Amerikanerin Elaine Sturtevant, der in New York und Chile lebende Franzose Pierre Huyghe oder der Kunstaktivist Theaster Gates aus Chicago teilen mit elf weiteren Künstler*innen eine Gemeinsamkeit: Sie alle sind Kurt Schwitters-Preisträger*innen.
Die Auszeichnung wurde 1982 durch die Landeshauptstadt Hannover ins Leben gerufen und wird seit 1996 von der Niedersächsischen Sparkassenstiftung finanziell getragen. Anliegen des seitdem in zweijährigem Turnus vergebenen Preises ist die Würdigung Kunstschaffender, deren Werk sich in irgendeiner Form auf den Namensgeber bezieht, sich durch das Vorwagen in neue künstlerische Bereiche und Vorstellungen auszeichnet oder einen Beitrag zur Verbindung und Integration künstlerischer Gattungen leistet.
Die internationalen Preisträger*innen werden durch eine ebenfalls international besetzte Jury ausgewählt, durch Procedere und Preisausstellung finde „die große Welt ins Sprengel Museum nach Hannover“, wie es Museumsdirektor Reinhard Spieler mit der ihm eigenen ironischen Note zur Eröffnung der diesjährigen Schau feststellte.
Mika Rottenberg ist die Schwitters-Preisträgerin 2019, das Votum der Jury fiel bereits im Sommer 2018, nun zeigt sie eine Werksauswahl. Rottenberg wurde 1976 als Nachfahrin polnisch-jüdischer Emigrant*innen in Buenos Aires geboren, ist in Tel Aviv aufgewachsen und nach Kunststudien in New York dort geblieben – „ohne heimatliche Gefühle“, wie sie es einmal ausdrückte.
So international wie ihre Vita waren auch ihre letzten, meist raumgreifenden Ausstellungsinszenierungen: 2016 konnte sie sich auf 10.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche im Pariser Palais de Tokyo entfalten, 2018 bestritt sie ihre institutionelle Österreichpremiere in den vier Stockwerken des Kunsthauses Bregenz, 2019 war sie auf der Istanbul-Biennale dabei, um nur einiges zu nennen.
Rottenberg macht Videokunst und Installationen. Zumindest letzteren haftete eine unübersehbar absurde Note an, die Schwitters vielleicht gefallen hätte. So drehen und schrauben sich im Zentrum ihrer Hannoveraner Gesamtinstallation nun zwei weibliche Fingerimitate mit extrem langen Kunstnägeln dem Besucher entgegen. Wer Pech hat und neugierig in das dunkle Loch ihres späteren Erscheinens starrt, kann eine unangenehme Überraschung erleben. Hingegen muss man an ein anderes Loch, gefasst von einem weiblichen Lippenpaar, sein Auge ganz dicht heranführen, um ein Kurzvideo zu erwischen.
Derweil wippt rhythmisch aus einem vierten Loch, auch akustisch den Takt vorgebend, ein Pferdeschwanz aus grauem Menschenhaar. Hier wird bereits einiges klar: Rottenberg geht es, unter anderem, um die Frau, ihren Körper, deren Attribute. Sie sieht ihn als Produktivfaktor im Kapitalismus, findet dafür abseits expliziten Feminismus' absurde, satirische Bilder und Metaphern.
Laudatorin Britta Peters, künstlerische Leiterin der urbanen Künste Ruhr und davor mitverantwortlich für die Freiluftkunst der Skulptur Projekte Münster 2017, zu der sie Rottenberg eingeladen hatte, ist ausgewiesene Kennerin, ein „Fan“ der Künstlerin, wie sie sagt. Sie weiß um wiederkehrende Elemente in den bildgewaltigen Welterklärungssystemen Rottenbergs.
Da wären die körperliche Statur ihrer Protagonist*innen, gerne in extremer Ausformulierung, Gesichtsmerkmale, Haare, Muskeln und Sehnen, auch Körperausscheidungen oder allergische Reaktionen, die zu Funktionsträgern ihrer Videos werden.
In „Cheese“, einer älteren filmischen Arbeit, reflektiert Rottenberg etwa die Geschichte der sieben „Sutherland Sisters“, die zwischen 1880 und 1900 in einem amerikanischen Wanderzirkus auftraten. Sie waren berühmt für ihr extrem langes Haar – in Publicityfotos bis zum Boden reichend – das sie wirtschaftlich erfolgreich für ein patentiertes Haarwuchsmittel zu nutzen wussten.
Rottenberg fand in einem aktuellen Langhaarclub in Florida mehrere weibliche Darstellerinnen, lässt sie in einer urtümlichen Farm mit Kleingetier und Ziegen aus deren Milch Käse produzieren – wenn sie nicht eindrucksvoll ihr Haar schütteln. Reale Warenproduktion und weiblich konnotierte Reproduktion verquicken sich unauflöslich in einem hermetischen System, das aber auch Züge autarker Selbstermächtigung im Geiste von George Orwells „Animal Farm“ trägt.
In ihrem neuen 18-minütigen Video „Spaghetti Blockchain“, das nun in Hannover seine Europapremiere feiern kann, bilden so abstrakte Phänomene wie die Teilchenbeschleunigung im europäischen Kernforschungszentrum Cern oder die namensgebende Blockchain, unendlich erweiterbare Listen von Datensätzen, die verschlüsselt miteinander verbunden sind, Auslöser für einen bunten allegorischen Bilderreigen.
Dokumentarisches wird mit Fiktivem in einer kaleidoskopartigen Trommel gemischt, visuell verschnitten und eruptiv in die Welt geworfen: Weite sibirische Landschaften in Tuwa kontrastieren mit farbintensiven engen Tunnelröhren, in braunen Ton gekratzte Streifendekore mit agroindustriellen Ackerfurchen einer Kartoffelplantage in Maine, dazu gelatineartige, bunte Wackelsubstanzen, schmatzend durchknetete Massen sowie implodierende Schäume, und immer wieder Brodelndes, Brutzelndes oder bratende Spiegeleier, vielleicht die letzte, unverstellt elementare Lebensäußerung während unserer menschlichen Daseinsversorgung.
Rottenberg interpretiert das alles als zeitgleiche Erscheinungen ein und derselben Welt, deren irrationale Qualitäten sie durch ihre Soundspur weiter pointiert. Tragend in diesem Video: der eher skurrile Kehlgesang der tuwinischen Kultur, traditionell von Männern gepflegt, nun von Frauen in bunten Trachten dargeboten.
Rottenberg selber bezeichnet ihr ästhetisches Prinzip als „Sozialen Surrealismus“. Sie spreche mit den Mitteln allegorischer Bilderfindung „die dringenden Fragen unserer Zeit messerscharf“ an, so die Jury 2018. Dabei klinge in „ihrem interdisziplinär-experimentellen künstlerischen Ansatz und in der Beschäftigung mit der Verwobenheit von Maschine und Körper die Sensibilität des bahnbrechenden Künstlers Kurt Schwitters nach“.
Oder einfacher ausgedrückt: Beißender Humor, absurde Kombinatorik oder performativer Szenenwitz scheinen vielleicht nicht die schlechtesten Deutungsansätze für eine sich in ihren Unerklärbarkeiten zunehmend verselbständigende Welt. Und das gilt wohl nicht erst, seit Kurt Schwitters vor hundertundeinem Jahr die Bühne der Künste betrat.
Ausstellung Mika Rottenberg: bis 10. 5., Hannover, Sprengel Museum
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