: Suite 603 — Aufstieg und Fall
Honecker im Krankenhaus für „verdiente Mitarbeiter des sowjetischen Machtapparates“/ Die politische Fiktion des Sozialismus hält ihn aufrecht und erklärt den Unterschied zum Kapitalismus ■ Von Florentine Friedmann
Hamburg. Der „letzte Republikflüchtling“ der ehemaligen DDR scheint sich in seinem sowjetischen Asyl wohlzufühlen. Der 78jährige Erich Honecker wirkt rüstig bei seinem ersten Interview seit seiner Flucht im April nach Moskau. Die Gesichtsfarbe ist rosig, die Augen schauen wach hinter der Hornbrille, er spricht im Ton eines Staatschefs bei dem Gespräch mit dem Moskauer 'adn‘-Korrespondenten Michael Szusgien, der Erich Honecker in ganz anderen Situationen, bei Staatsbesuchen und ähnlichen Treffen in Moskau, in der Vergangenheit kennengelernt hat. Die Regie beim Auftritt des Greises, für den das sozialistische Weltbild noch immer ohne Risse zu stimmen scheint, führt Margot Honecker, die ehemalige Volksbildungsministerin der DDR und angeblich verantwortlich für Zwangsadoptionen von Kindern von Republikflüchtlingen und politischen Dissidenten. Sie dirigiert das am Sonntag abend vom 'Spiegel-TV‘ ausgestrahlte Gespräch. Er sagt: „Komm, liebe Frau, das machst Du alles viel besser als ich“, und sie fällt ihm hilfreich ins Wort, wenn es um heikle Fragen wie den jetzigen Status des früheren ersten Mannes der DDR geht — „da würde ich jetzt nichts sagen“ —, um die Befindlichkeiten („die Greuelmärchen in den Zeitungen [...] bewegen uns schon [...] diese Hexenjagd [...]) und um die Polit-Bilanz: „Ich sage immer — oder wir sagen immer, wer sich nicht menschlich verhalten hat in dieser Zeit, der muß das mit seinem Gewissen ausmachen.“ Sich selbst oder ihren Mann, von dem sie seltsam distanziert als von „dem Honecker“ spricht, scheint sie dabei nicht zu meinen.
„So leben wir, man gewöhnt sich dran“, sagt der als angeblicher Initiator des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze beschuldigte Honecker bei der Führung durch seine Wohnung, der „Suite 603“ in einem Krankenhaus für „verdiente Mitarbeiter des sowjetischen Machtapparates“ bei Moskau. In der Ecke stehen Koffer, gepackt für die geplante Reise zur Tochter nach Chile oder Überbleibsel des hastigen Weggangs von Deutschland, an der Wand klebt eine triste Rautentapete, das Holzregal an der Wand ist leer bis auf eine Glasvase, auf einer Kommode stehen Fotos der Familie. Auf einem Tisch stapeln sich Exemplare vom 'Neues Deutschland‘, der 'Berliner Zeitung‘ und des 'Spiegel‘. Über dem Bett hängt eine Infusionsflasche - „die Ärzte sagen, zur Sicherheit“, erklärt Margot Honecker, ebenso wie ihr Mann in strengem Grau gekleidet.
Doch er trägt im Gegensatz zu seinen früheren Auftritten als Staats- und Parteichef keine Krawatte, das Hemd steht zwei Knöpfe weit offen. Trotzdem gibt er sich bei den Fragen nach seiner Flucht zugeknöpft. „Meine Frau hat schon darauf hingewiesen“, erinnert er an die „Verschlechterung meines Gesundheitszustandes“, „das muß man doch als normal betrachten“, fällt Margot zu der „Verlegung“ ein.
Obwohl er nach der ärztlichen Behandlung in Moskau wieder optimistisch sei, „ist mein seelischer Gesundheitszustand nicht optimistisch, wenn ich die weitere Entwicklung in Deutschland betrachte“, sagt Honecker. Er habe „eine Nacht nicht geschlafen“ nach der Verhaftung seiner ehemaligen Weggefährten, des ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph und des Verteidigungsministers Heinz Keßler, und sich zu dem Tritt ins Rampenlicht entschlossen, um gegen diese „durch nichts gerechtfertigte Kampagne“ zum weltweiten Protest aufzurufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen