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Süß-saures BVG-Bonbon

■ Die Arbeitsämter benachteiligen Empfänger von Arbeitslosehilfe im Vorgriff auf ein neues Gesetz / Die vom BVG vorgeschriebene Erhöhung soll es nur bei der Unterstützung geben

Der 24. Mai 2000 war ein guter Tag für die Arbeitslosen in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht (BVG) hatte ihnen eindeutig Recht gegeben: Verfassungswidrig sei es, dass die Bundesanstalt für Arbeit bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes nur vom monatlichen Gehalt ausgeht und Einmalzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld oder Umsatzbeteiligungen nicht berücksichtigt. Schließlich müssen auf diese Zahlungen auch Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet werden.

Einen Monat später bekam Jutta Beyer* Post vom Arbeitsamt. Ausnahmsweise war der alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern nach dem Lesen zum Feiern zumute: Die Behörde hatte den BVG-Beschluss umgesetzt und die Berechnungsgrundlage für's Arbeitslosengeld angehoben. Auf einen Schlag hatte die Sozialpädagogin 120 Mark mehr in der Familienkasse. Doch auf den Jubel folgte bald der Kater. Ein paar Monate später war die Arbeitslosenunterstützung erschöpft. Jutta Beyer blieb nur noch die Arbeitslosehilfe. Die Überraschung: Statt der erwarteten 10 Prozent Einbuße waren es plötzlich 20.

Ungläubig prüfte sie ihren Bescheid und stellte fest, dass die Bemessungsgrundlage dieselbe war wie vor dem BVG-Urteil. Auf Nachfrage beim Arbeitsamt erfuhr sie, das liege daran, dass die Hilfe vom Staat bezahlt werde, während die Unterstützung eine Versicherungsleistung sei. Das war nur die halbe Wahrheit: Die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit hatte per einfacher Dienstanweisung an die Arbeitsämter erstmals die Bemessungsgrundlage der beiden Leistungen entkoppelt.

„Das ist rechtswidrig“, sagt Martin Lühr von der Arbeitslosenberatung AGAB. Denn im Sozialgesetzbuch ist eine einheitliche Bemessungsgrundlage vorgeschrieben. Die rot-grüne Bundesregierung will den entsprechenden Passus im Gesetz ändern. Am Mittwoch hat sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Bezieher von Arbeitslosenhilfe auf den Stand vor dem BVG-Urteil zurückgestuft werden sollen. Für die AGAB wäre das ein besorgniserregender Schritt: „Sind Arbeitslosenunterstützung und -hilfe erstmal entkoppelt, ist der Schritt zur Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau nicht mehr weit“, sagt Martin Lühr. Aber noch ist das Gesetz nicht verabschiedet, und ob das in diesem Jahr noch geschieht, ist zweifelhaft.

Die Arbeitsämter zahlen indes schon heute nur den alten Satz aus. „Wir handeln im Vorgriff auf die gesetzliche Regelung“, sagt Jörg Nowag, Pressesprecher des Bremer Arbeitsamts. Auf die Frage, ob das nicht rechtswidrig sei, verweist er an das zuständige Bundesministerium. „Das ist die gültige Weisungslage.“ Einige Sachbearbeiter empfehlen ihren Kunden unterdessen ganz offen, Widerspruch einzulegen – mit dem vielsagenden Hinweis, es könne sich lohnen, die Chancen stünden gut.

Widerspruch hat auch Jutta Beyer eingelegt – mit Hilfe der AGAB, die einen Standardbrief aufgesetzt hat. Zumindest bis zur Gesetzesänderung will sie bekommen, was ihr zusteht. Schwieriger wird das für all jene, die Nachzahlungen für vergangene Verluste erwirken wollen. Laut BVG-Urteil ist das maximal rückwirkend bis zum 1. Januar 1997 möglich – im Einzelfall kann es also um mehrere tausend Mark gehen. Allerdings nur dann, wenn die entsprechenden Leistungsbescheide noch nicht rechtskräftig sind. Die Arbeitsämter haben jedoch Widersprüche in den meisten Fällen rundweg abgelehnt, statt sie zumindest während des laufenden BVG-Verfahrens auszusetzen. Wer die Kosten einer Klage gescheut hat, steht jetzt ziemlich dumm da, weil die Bescheide rechtskräftig wurden.

„Die Arbeitsämter haben teilweise bewusst verfassungswidrig gehandelt“, sagt Rechtsanwalt Detlev Driever. Gut möglich, dass sie gerichtlich verdonnert werden, die abgewiesenen Widersprüchler in den alten Rechtsstand zurück zu versetzen. Jurist Driever rät deshalb all jenen, die seit 1997 gegen ihre Bescheide Widerspruch eingelegt haben, diese jetzt vom Arbeitsamt nochmals überprüfen zu lassen. Auch für sie könnte sich durchaus ein Nachzahlungsanspruch ergeben. Jan Kahlcke

*Name von Redaktion geändert

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