: Sucht per Rezept
■ IKK-Studie: Mindestens 1,4 Millionen Menschen sind medikamentenabhängig
Berlin (taz) – Die Zahl der Medikamentenabhängigen in den alten Ländern der Bundesrepublik ist um ein Viertel höher als bislang geschätzt. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie des Bundesverbandes der Innungskrankenkassen (IKK). Die Untersuchung hat für das 1. Halbjahr 1989 sämtliche Arzneimittelverordnungen im Gebiet der IKK Mettmann (NRW) nach Wirkstoffen ausgewertet und damit erstmals eine genaue Erfassung der Medikamentenabhängigen ermöglicht. Die 200 entdeckten Fälle bedeuten nach zuverlässigen Hochrechnungen, daß in den alten Bundesländern mindestens 1,4 Millionen Menschen arzneimittelsüchtig sind.
Tatsächlich dürfte ihre Zahl um einiges höher liegen. Zum einen bezieht sich die Hochrechnung nur auf die 90 Prozent PatientInnen, die in der gesetzlichen Krankenkasse versichert sind, zum anderen konnten nur Arzneimittel erfaßt werden, die rezeptpflichtig sind. Abhängigkeiten, die durch frei erhältliche Schmerzmittel entstehen können, konnten daher nicht berücksichtigt werden.
Als besonders problematisch bezeichnet die Studie die „Benzodiazepine“, die in zahlreichen Beruhigungs- und Schlafmitteln enthalten sind. „Diese Wirkstoffe können schon nach sechs Wochen Suchtverhalten auslösen“, erklärte der Leiter der Studie, Professor Jörg Remien. Der Verbrauch von Benzodiazepinen in der BRD reicht statistisch aus, um täglich zwei Millionen PatientInnen zu versorgen. Nach Remiens Berechnungen sind allein von Benzodiazepinen 850.000 Menschen abhängig. Insgesamt sind Frauen dreimal häufiger von Tablettensucht betroffen als Männer.
Die Studie zeigt deutlich die Verantwortung der ÄrztInnen für die Tablettensucht ihrer PatientInnen: Zwei Drittel der Abhängigen (67,5 Prozent) sind nur bei einem Arzt in Behandlung. „Die meisten behandelnden Ärzte sind somit über die Abhängigkeit ihrer Patienten informiert, weil sie diese via Rezeptblock mitverursacht haben“, erklärte Remien.
Als Sofortmaßnahme forderte Rolf Stuppardt, Geschäftsführer des IKK-Bundesverbandes, einen unübersehbaren Warnhinweis auf Beipackzetteln und Medikamentenpackungen: „Der Gesundheitsminister warnt: Dieses Medikament kann Abhängigkeit erzeugen“. Darüber hinaus wird die IKK künftig verstärkt eine arzt- und patientenbezogene Prüfung der Rezepte durchführen. Wer unsachgemäß verschreibt – wie ein Arzt aus der Studie, der einer 40jährigen Frau zwei Jahre lang täglich fünf Beruhigungszäpfchen verschrieb –, wird entdeckt. „Die Ärzte müssen zur Verantwortung gezogen werden“, erklärte IKK-Sprecher Johannes Beckmann. Gespräche über ihr Verschreibungsverhalten könnten nur ein erster Schritt sein. „Ohne Sanktionen läuft nichts“, meinte er. Denkbar wären beispielsweise Regreßforderungen der Kassen. PatientInnen, die durch die Verschreibung von Medikamenten abhängig geworden seien, sollten seiner Ansicht nach auch das Recht auf Schadenersatz haben. Hierzu müsse jedoch das Arzneimittelgesetz geändert werden. Derzeit plant die IKK die Einrichtung einer pharmakologischen Beratungsstelle für Versicherte und Ärzte. win
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