■ Normalzeit: Suche nach dem japanischen Kuchenbaum
Wenn die Blätter abfallen, wird es Zeit, in den Botanischen Garten zu gehen. Das Schönste, was Steglitz zu bieten hat. Es ist ein echter Ort des „Erstaunens“ (Diderot). Und des Suchens! Das habe ich aber erst im Oktober des letzten Jahres gemerkt: Da gab es eine junge Ukrainerin mit Kind, die erst in Kiew Boutiquen- Schneiderin gelernt hatte und dann als Näherin zur Roten Armee in die DDR gegangen war. Als man sie dort entließ, beantragte sie Asyl in der BRD. „Komm bloß nicht nach Hause, es wird hier immer schlimmer“, hatten die Schwester und die Mutter ihr wiederholt geraten. Sie traf sich mit den beiden gelegentlich an der polnisch-ukrainischen Grenze. Ihr Asylantrag hatte jedoch null Chancen. Ich bot ihr eine Scheinehe an.
Meine Freundin drohte: „Wenn du sie heiratest, ziehe ich aus.“ Um trotzdem noch einmal die eventuellen Formalitäten mit ihr durchzusprechen, verabredete ich mich mit Irina, so hieß sie, zu einem Spaziergang im Botanischen Garten, wo ich ihr den berühmten japanischen Kuchenbaum zeigen wollte, ein Baum, der im Herbst wie ein frischgebackener Kuchen riecht, in weitem Umkreis. Aber wir fanden ihn nicht. Stundenlang suchten wir in „Asien“ und sogar in „Nordamerika“. Irina fand es unterhaltsam. Sie heiratete kurze Zeit später jemand anders – in Hildesheim und aus Liebe. Und also gab es diesbezüglich gar keine weiteren Probleme mit meiner Freundin.
Trotzdem war ich wegen der vergeblichen Suche nach dem Kuchenbaum unzufrieden. In diesem Jahr wollte ich es nun wissen. Am vergangenen Wochenende verabredete ich mich erneut im Botanischen Garten. Diesmal mit einer Uckermärkerin, ebenfalls mit Kind, sie hatte Botanik studiert – ihr Spezialgebiet waren die „Bedecktsamer“. Sie war im Suchen und Auffinden von seltenen Gewächsen weitaus gewiefter als die Ukrainerin, trotzdem fanden wir den Kuchenbaum auch diesmal nicht. Als es dunkel wurde, gaben wir auf – und fuhren in die Wilhelm-Pieck-Straße, um dort – im „Café Jo“ – einige alkoholhaltige Erfrischungsgetränke zu uns zu nehmen. Auf dem Tresen lag die neueste Ausgabe der Stadtteil-Zeitung Scheinschlag zum Mitnehmen. Ein wunderbares ABM-Projekt für Mitte und Friedrichshain, in dem mir vor allem die „Nachgefragt“-Kolumne von Hans Duschke gefällt. Den Toiletten- Gang meiner Begleiterin nutzte ich, um sie blitzschnell durchzulesen. Sie handelte – kein Witz! – von der vergeblichen Suche des Autors und seiner Freundin bzw. Frau (Gisela Duschke?) nach dem duftenden Kuchenbaum im Botanischen Garten. Dieser hübsche Lesefund besserte meine Laune schlagartig. Auch die Botanikerin aus der Uckermark, Jutta hieß sie übrigens, fand Duschkes Kolumne „sehr komisch“. Je mehr wir darüber redeten und dabei auch auf die Zufälle im allgemeinen zu sprechen kamen, desto peinlicher wurde uns das Ganze jedoch: War der Herbstspaziergang von Kolumnisten linksalternativer Periodika mit ihren weiblichen Bekanntschaften im reiferen Alter zum Kuchenbaum des Botanischen Gartens vielleicht gar keine „tolle Idee“ umherschweifenden freien Willens, sondern plattester Ausdruck eines stummen Zwangs ökonomischer Verhältnisse, wie er sich – am Ende – allen Kolumnisten der Stadt in brutalster Weise aufzwingt?
Wenn ich nur gewußt hätte, wo der Baum steht, hätte ich mich unter ihm auf die Lauer gelegt, um diesen scheußlichen Gedanken zu überprüfen. Statt dessen begann ich gleich am Montag, wie wild herumzurecherchieren: Beim Tagesspiegel: „Ja, wir berichten seit Jahren regelmäßig über den“; bei der Mottenpost: „Natürlich kennen wir den, wir sind sogar täglich näher dran!“ (hahaha); beim SFB: „Wir bringen jedes Jahr ein Interview mit dem Sprecher der Botaniker, ,Dr. Zepernick – unter dem Kuchenbaum‘“; beim Stachel der AL: „Wir überlegen uns gerade, ob wir ab nächsten Herbst eine Menschenkette um den Sulfia B. Japonensis legen sollen, die Kolumnisten der Stadt werden immer dreister, reißen ganze Zweige vom Baum, um sie ihren komischen Freundinnen in die Vase zu stecken, und jetzt kommen auch noch die aus dem Osten dazu...“
Die rief ich dann gar nicht mehr an. Ich war echt erschüttert. Bis zum Mittwoch spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, diese Kolumne aus freien Stücken sofort zu beenden. Aber dann erreichte mich über den taz- Hausmeister Jens die Nachricht, daß die Chefredaktion beschlossen hatte, allen ehemaligen taz- Mitarbeitern, denen das Arbeitsamt aus Altersgründen keine Umschulung mehr finanziert, ein doppeltes Zeilenhonorar zu gewähren. Auf individuum-orientierten Antrag der Ressortleitung hin zwar nur, aber dafür lohnte es sich doch zu kämpfen. Helmut Höge
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