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Suche nach dem Wahlfieber in der Provinz

■ Wahl oder nicht Wahl - die Sonntagsidylle in Mühlenbeck blieb ungetrübt

In Mühlenbeck im Kreis Oranienburg verraten am Sonntagmorgen nur ein paar Plakatfetzen und das Hinweisschild zum Wahllokal, daß Wahltag ist.

Vom Wahlspektakel in der 20 km entfernten Hauptstadt unberührt, widmen sich die Mühlenbecker dem Unkraut zwischen den Krokussen und dem Staub auf dem Straßenpflaster.

Morgens um 9 Uhr ist Günter Döring der einzige, der auf der Hauptstraße anzutreffen ist.

Das auffälligste Wahlkampfereignis sei - neben ein paar Veranstaltungen des örtlichen Bürgerkomitees - ein Lautsprecherwagen der CSU gewesen.

Nach wie vor gibt es eine einzige Ortsgruppe - die der PDS. Doch die habe ihr Ansehen spätestens am Anfang des Jahres gänzlich eingebüßt, als herauskam, daß die Kunst- und Antiquitäten GmbH in den Hallen neben dem Bahnhof lukrative Geschäfte mit dem „NSW“ abwickelte.

In der Mühlenbecker Ortskirche haben sich sieben Kirchgänger zum sonntäglichen Gottesdienst versammelt. Pastorin Hedda Bethge spricht vom langwierigen Weg aus der Zeit des Zettelfaltens in die neue Freiheit und betet auch für die, die unter den neuen Verhältnissen nicht zurechtkommen werden.

Die Pastorin will für die erste freie Wahl werben, aber die plumpe Parteienwerbung, die ihr katholischer Kollege im Ortsteil Schildow betrieb, lehnt sie ab: der glaubte, seine Schäfchen mit Plakaten von Diepgen und anderen CDU -Politikern auf den rechten Weg führen zu müssen.

Auch die anderen Dorfhonoratioren betrieben fleißig Wahlwerbung: im Wartezimmer der einzigen Mühlenbecker Ärztin konnten sich die Patienten die Wartezeit mit der Betrachtung von CDU-Plakaten verkürzen.

Der Verkaufsleiter im einzigen Konsum am Ort übt sich in Meinungsvielfalt: in seinem Schaufenster hängen die Plakate von CDU, SPD und Neuem Forum einträchtig nebeneinander.

Das Wahllokal für die 715 Mühlenbecker BürgerInnen liegt in der Käthe-Kollwitz-Schule. „Bitte die Vorhänge zuziehen“ Renate Borchert, eine der fünf WahlhelferInnen, kontrolliert Ausweise und Wahlscheine und macht die WählerInnen mit dem Umgang mit den Wahlkabinen vertraut. Alles klappt noch nicht: „Da waren ja schon wieder zwei in einer Kabine...“

Um die Mittagszeit lag die Wahlbeteiligung schon bei über 60 %, alles verlief ruhig, wie Wahlleiter Burkhard Miersch vermelden konnte. In den frühen Morgenstunden habe ein Reporter von Newsweek kurzzeitig für Aufregung gesorgt, doch der fragte nur nach dem Weg nach Berlin.

Bei der Auswahl der Wahlhelfer wurde darauf geachtet, „politisch unbelastete Personen“ auszusuchen. Von denen, die bei der letzten Wahl hinter der Urne saßen, war keiner mehr dabei. Im übrigen sei es schon die zweite geheime Wahl im Ort, wie Hans-Gebhard Bethge vom Wahlvorstand mitteilte. Die erste fand darüber statt, ob das Wahllokal mit der Landesfahne geschmückt werden soll oder nicht. Ergebnis: Kein Fahnenschmuck.

Am Abend ist Mühlenbeck wieder wie ausgestorben. Im Wahllokal grübeln die Wahlhelfer über das Ergebnis nach. Die Auszählung der Stimmen habe endlos lange gedauert, da ein DSU-Wähler („4 Pudel und seit Wochen die Deutschland-Fahne im Garten“) sein Recht wahrnahm, jede Stimme für die Allianz eigenhändig zu kontrollieren. Die Wahl der Mühlenbecker sei schon in Ordnung gewesen - immerhin lag die SPD mit 40,6% vor der CDU (35,6%). Daß die PDS nur 8,3% erreichte, wurde mit dem Kunst- und Antiquitäten-Skandal und der Unfähigkeit des Bürgermeisters erklärt. Womit sich die Diskussion wieder den örtlichen Problemen zuwendet: Wer kümmert sich endlich um die wilde Müllkippe am Ortseingang, den Gestank der Schweinefutterproduktion und den kaputten Schornstein im Kindergarten?

Sonntagabend in Mühlenbeck. Die Kneipe hat schon längst wieder geschlossen, auf der Straße ist es menschenleer, nur beim Schlachter wird noch gefeiert.

Claudia Haas

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