Studie zu sekundärer Viktimisierung: Schluss mit Täter-Opfer-Umkehr
Opfer von rassistischer Gewalt fühlen sich von Polizei und Justiz oft ungerecht behandelt. Forscher:innen führen nun eine erste Studie dazu durch.
„Mit der Studie untersuchen wir das Phänomen der sekundären Viktimisierung von Betroffenen im Rahmen von Ermittlungs- und Strafverfahren“, sagt Daniel Geschke vom IDZ, der die Studie leitet. Der sperrige Begriff „sekundäre Viktimisierung“ stammt aus den Sozialwissenschaften und bedeutet, dass ein Opfer einer Gewalttat erneut zum Opfer wird, indem Familie und Freund:innen oder aber Polizist:innen, Richter:innen oder Staatsanwält:innen unangemessen auf die Tat reagieren – dem Opfer zum Beispiel nicht glauben oder ihm eine Mitschuld an der Tat geben.
„Das klassische Beispiel ist: Eine Frau wird im Park sexuell belästigt und wohlmeinende Angehörige fragen, warum sie überhaupt alleine durch den Park gegangen sei oder so ein kurzes Kleid getragen habe“, sagt Geschke.
Durch solche Fragen gebe man der betroffenen Person das Gefühl, selbst Schuld an dem Übergriff zu sein. Das könne die negativen Auswirkungen der eigentlichen Gewalttat zusätzlich verstärken.
Viele Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen
In der Studie jedoch geht es nicht um sekundäre Viktimisierung durch Angehörige, sondern durch Polizei und Justiz. Zu diesem Thema gibt es im deutschsprachigen Raum erst eine einzige Untersuchung. Sie stammt aus dem Jahr 2014, bezieht sich allerdings nur auf Thüringen und auf die Erfahrungen Betroffener rechter Gewalt mit der Polizei – nicht mit Gerichten oder der Staatsanwaltschaft. An dieser Studie, die der Jenaer Rechtsextremismusexperte Matthias Quent geleitet hat, hat auch Daniel Geschke – der Leiter der aktuellen Studie – mitgearbeitet.
„Die Studie von 2014 hat gezeigt, dass sekundäre Viktimisierung durch die Polizei systematisch stattfindet, es sich also nicht nur um Einzelfälle handelt“, sagt Geschke. „Viele Betroffene rechter Gewalt fühlen sich von der Polizei nicht ernst genommen und sehen sich mit Vorurteilen seitens der Beamt:innen konfrontiert“, sagt Geschke. In den Ergebnissen der Studie heißt es, dass mehr als die Hälfte der 44 Befragten den Eindruck hatte, die Polizei sei nicht an der Aufklärung der politischen Motive der Tat interessiert. Nur in wenigen Fällen informierten die Beamt:innen die Gewaltopfer über alle ihnen zustehenden Ansprüche und Rechte.
Die Studie weise aber auch Mängel auf, sagt Geschke. „Sie wurde nicht bundesweit, sondern nur in Thüringen durchgeführt, außerdem war die Stichprobe klein.“ Viele Menschen hätten nicht teilnehmen können, weil der Fragebogen aufgrund fehlender Gelder nur auf Deutsch zur Verfügung stand.
Mit ihrer bundesweiten Befragung knüpfen Geschke und sein Team an die Studie von 2014 an. Anders als damals liegt der Fragebogen auch auf Englisch, Französisch, Türkisch, Kurdisch, Vietnamesisch, Serbisch, Arabisch, Persisch und Tigrinya vor. Geschke hofft auf mehrere Hundert Teilnehmer:innen. Mitmachen kann jede*r, der oder die seit 2016 rechte, rassistische, antisemitische, sexualisierte oder andere vorurteilsmotivierte Gewalt erlebt hat und danach Kontakt mit Polizei oder Justiz hatte.
Ausbildung der Polizei muss mehr sensibilisieren
Franz Zobel von der Thüringer Opferberatungsstelle ezra betont, wie wichtig empirische Daten zu sekundärer Viktimisierung durch Polizei und Justiz seien. Zobel und seine Kolleg:innen erlebten immer wieder, dass Betroffene schlechte Erfahrungen mit Polizist:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen oder gegnerischen Anwält:innen machten. „Regelmäßig berichten uns Betroffene von diskriminierenden Fragen bei Vernehmungen und Gerichtsverhandlungen, von Täter-Opfer-Umkehr, von Bagatellisierungen durch Beamt:innen oder davon, dass sie eine Anzeigenaufnahme verweigern“, sagt Zobel.
Die sekundäre Viktimisierung sei für die Opfer häufig sogar belastender als die eigentliche Tat, weil die Erwartung, Hilfe zu bekommen, nicht erfüllt werde. „Erst dann, wenn empirische Daten vorliegen, können die Behörden nicht mehr von Einzelfällen sprechen und sind dazu gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen“, sagt Zobel.
Er fordert, in der Aus- und Weiterbildung von Polizist:innen und Jurist:innen verstärkt Empathie und Sensibilität zu vermitteln und gezielt gegen Vorurteile vorzugehen. Darüber hinaus müsse Fehlverhalten von Polizeibeamt:innen, Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen sanktioniert werden. Weil es für Betroffene besonders belastend sei, wenn das rechte, rassistische oder antisemitische Tatmotiv nicht anerkannt werde, schlägt Zobel vor, dass Beamt:innen immer in diese Richtung ermitteln müssen, sobald die Betroffenen ein politisches Tatmotiv vermuten.
Die Beratungsstelle ezra, bei der Franz Zobel arbeitet, sowie der Bundesverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) unterstützen das IDZ bei der Durchführung der Studie. Die Ergebnisse werden voraussichtlich Anfang 2023 veröffentlicht. „Unser Ziel ist es, die Gesellschaft für das Thema zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass Betroffene vorurteilsmotivierter Gewalt genauso von Polizei und Justiz behandelt werden wie alle anderen auch: nämlich gerecht und vorurteilsfrei“, sagt Studienleiter Daniel Geschke.
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