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Studenten und Polizei im Beijinger Frühling

■ 500.000 setzten sich in Beijing über massive Drohungen und Straßensperren hinweg / Bevölkerung applaudiert den Studenten / Polizei auf dem Rückzug

Beijing (ap/taz) - „Die Geschichte wird uns nicht vergessen. Das Volk wird uns nicht vergessen.“ Der Studentenführer in Beijing rief gestern Historisches ins Megaphon, als die Massen unter roten und weißen Fahnen in der chinesischen Hauptstadt auf den Platz des Himmlischen Friedens strömten. Über eine halbe Millionen Demonstranten zogen ungeachtet massiver Drohungen und trotz des Demonstrationsverbots der Regierung auf den Tiananmen-Platz im Zentrum der Stadt. Selbst die optimistischsten Studentenführer hatten nicht erwartet, daß so viele Menschen zu dem Aufzug kämen.

Auf dem 15 Kilometer langen Weg schlossen sich Zehntausende von Arbeitern und anderen Beijingern den Studenten an, die am frühen Morgen an der Universität Beida aufgebrochen waren. Augenzeugen sprachen von der größten Demonstration seit der Kulturrevolution, die 1976 mit Massenkundgebungen auf dem symbolträchtigen Tienanmen-Platz geendet hatte. Unter dem Beifall der Schaulustigen überwand die Menge auf dem Weg durch Beijing mehrere Polizeisperren und drängte die auf dem Tiananmen-Platz postierten Hundertschaften friedlich an den Rand des riesigen Areals. Die bewaffneten Sondereinheiten, darunter 450 Soldaten mit 15 Militärfahrzeugen, konnten dem Andrang der Menschenmasse nicht standhalten. Sie zogen es vor, die Flugblätter der Studenten entgegenzunehmen und sich winkend zurückzuziehen. Den Rückzug quittierte die Menge mit der Parole: „Das Volk liebt die Volkspolizei, die Volkspolizei liebt das Volk!“

Die Regierung, die sich noch am Vortag auf einen harten Konfrontationskurs eingeschworen hatte, erklärte sich unterdessen zu Gesprächen mit den Studenten bereit, wenn diese ihren seit Montag andauernden Vorlesungsboykott beendeten. Spitzenpolitiker Deng Xiaoping war noch am Vortag auf einer Dringlichkeitssitzung von 14.000 Parteimitgliedern mit den Worten zitiert worden, die KP habe die Unterstützung der Arbeiter, Bauern und Streitkräfte und habe es nicht nötig, sich mit den Studenten herumzuärgern. Fortsetzung S. 2

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Nicht nur die seit einem Jahr schwelenden Unruhen unter Chinas unterbeschäftigten Industriearbeitern in den städtischen Zentren widerlegen diese Einschätzung. Auch den Protesten in Tibets Hauptstadt Lhasa wußte die chinesische Führung nicht anders als mit der Verhängung des Kriegsrechts zu begegnen. Es kommt nicht von ungefähr, daß die Eltern des prominentesten Studentenführers Wu'er Kaixi der im Norwesten Chinas lebenden Uighuren-Minderheit angehören. Der 21jährige Wu bezeichnete es als seine größte Sorge, daß es der Regierung gelingen könne, einen Keil zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung

zu treiben. Gestern sah es so aus, als sei die KP-Spitze mit diesem Versuch nur wenig erfolgreich. Zahlreiche Arbeiter schlossen sich nach Fabrikschluß den Studenten an und stimmten in ihre Sprechchöre ein. Selbst Hausfrauen, Jugendliche und Angestellte in Anzügen und Krawatte ließen sich unter dem Motto „Nieder mit Bürokratie und Korruption“ und „Mehr Pressefreiheit“ mitreißen.

Die Demonstranten trugen auch Spruchbänder, auf denen sie ihre kommunistische Gesinnung unterstrichen. „Wir unterstützen gute kommunistische Führer“ und „Schützt die Kommunistische Partei“ hieß es auf Schildern, die in vorderster Front hochgehalten wurde.

Viele der streikenden Studenten sind Kinder chinesischer Regie

rungsangestellter, Intellektueller und Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die Studenten haben offenbar eine genaue Vorstellung von den gegenwärtigen politischen Reformen in der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern. Wu: „Wir wissen sehr wohl, was in der UdSSR vor sich geht. Aber in China gibt es besondere Bedingungen, und wir sollten unseren eigenen Weg zur Demokratie gehen.“

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