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Straße und Blut

■ Manfred Gailus: „Straße und Brot . Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens 1847-1849“

Thomas Lindenberger

In der Ahnengalerie unserer deutschen „modernen“ Demokratie nimmt spätestens seit Gustav Heinemanns Bemühungen die Revolution von 1848 einen festen Platz ein: Sie wird allgemein die „bürgerliche“ genannt, da - so will es die Legende - das aufstrebende liberale Bürgertum im Bündnis mit den Volksmassen des Ancien regime in den deutschen Kleinstaaten zu beseitigen und an seiner Stelle konstitutionelle Monarchien, wenn nicht gar Republiken zu errichten versuchte. Soweit man sich auf die Papierform im wahrsten Sinne des Wortes beschränkt, spricht vieles für diese Lesart: Die ersten Versuche eines Parlamentarismus und die massenhaften Petitionsbewegungen setzten breite Bevölkerungsschichten vom Großunternehmer über das Kleinbürgertum bis hin zu Landbevölkerung und Arbeitern in Bewegung. Das Scheitern dieser Revolution wird in der Regel ebenfalls dem Bürgertum angelastet, denn seine „historische Aufgabe“ bestand in der Durchsetzung bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, um die ungehinderte Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu gewährleisten. Statt dessen machten die bürgerlicher Liberalen auf halbem Wege kehrt, „verrieten“ in sozialer Panik angesichts der drängenden Volksmassen ihre historische Mission und verbündeten sich mit Teilen des Adels zur restaurativen Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Der späteren Arbeiterbewegung blieb das Erbe, zugleich für die bürgerliche wie für die proletarische Revolutiopn kämpfen zu müssen, ein Dilemma, das die Linke bis heute nicht überwunden hat...

Soweit die Legende, die in ihren Grundzügen von HistorikerInnen aller Schattierungen, marxistischen wie nichtmarxistischen geteilt wird. Der Berliner Historiker Manfred Gailus hat diese Revolutionsinterpretation aus der Vogelperspektive in einer breitangelegten Untersuchung umgekehrt und eine Sozialgeschichte der plebejischen Revolten und Unruhen von 1847 bis 1849 geschrieben. Welchen Anteil an dieser „großen Politik“ der Parlamente und Petitionsbewegungen, der bürgerlichen Vereine und Debattierklubs hatten denn die zum „Volk“ stilisierten „kleinen Leute“? Was war ihre Sache in diesen drei unruhigen Jahren, in denen nicht nur um Verfassungen gestritten wurde? Insgesamt 1.486 Fälle öffentlicher Unruhen aus den unterschiedlichsten Anlässen hat er recherchiert und analysiert: Hungerkrawalle, Markttumulte, Katzenmusiken gegen unbeliebte Honoratioren, Rathauserstürmungen, Barrikadenkämpfe, revolutionäre wie konterrevolutionäre Festumzüge, Maschinenstürmereien und Handwerkerunruhen, aber auch antijüdische „Exzesse“ und patriotische „Thron-und -Altar„-Unruhen gegen liberale Honoratioren - fernab von Parlamenten und Vereinen artikulierten die Unterschichten auf der Straße ihre Ansprüche und Hoffnungen, ihre Frustrationen und ihre Wut. Die Straße - von altersher die Öffentlichkeit, die auch ihnen zugänglich war - wurde in dieser Krisenzeit ihr bevorzugter Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Die „Lektüre“ dieser Aktionen verändert das gewohnte Bild von der Märzrevolution, macht aus der simplen Zweierbeziehung von Fortschritt und Reaktion ein kompliziertes Dreiecksverhältnis zwischen „alten“ und „neuen Eliten“ (resp. Adel und Bürgertum) sowie den Unterschichten.

Worum ging es im einzelnen? Gailus hat drei Konfliktfelder und -phasen intensiver untersucht: die Welle von Hungerunruhen 1847, den revolutionären Sommer in Berlin 1848, als dem Volk die Straßen gehörten, und die antibürgerlichen „Thron-und-Altar„-Unruhen im ersten Restaurationsjahr 1849. Zunächst der Kampf ums Brot: Hungerkrisen infolge von Mißernten hatte es „schon immer“ gegeben. Was 1847 fehlte, war jegliche Bereitschaft der „alten“ wie der „neuen Eliten“, dem rasanten Preisanstieg durch staatliche und private Interventionen entgegenzuwirken. Die kleinen Leute klagten „gerechte“ Preise, Maßnahmen gegen Aufkäufer und Wucherer oder wenigstens die traditionelle Mildtätigkeit ein, so wie es jahrzehntelang in solchen Situationen der Knappheit üblich gewesen war. Doch bei allem, was Adel und Bürgertum ansonsten trennen mochte - darin waren sie sich diesmal einig: Von einer „moralischen Ökonomie von oben“, also Eingriffen in das freie Spiel der Kräfte von Angebot und Nachfrage, wollten sie mitten in der stürmischen Industrialisierung Deutschlands nichts wissen - und so wurden landauf, landab Speicher und Läden geplündert, der Export von Getreide verhindert, Nahrungsmittel in eigener Regie zum „gerechten“ Preis verkauft.

Auch während der Revolutionszeit 1848 zeigten die kleinen Leute auf der Straße, daß Revolution für sie vor allem Sozialpolitik zu sein hatte: niedrige Preise beziehungsweise korrekt gewogenes Brot, auskömmliche Löhne; und dazu die Abschaffung jener Schikanen und kleinlichen Polizeivorschriften, mit denen ein pietistischer Ordnungsfimmel in der langen Vormärzzeit den Mann und die Frau auf der Straße drangsalierte. So war zum Beispiel das Rauchen auf der Straße ebenso wie das Tragen von Wäschekörben auf dem Bürgersteig verboten und wurde mit empfindlichen Geldbußen belegt. Dieses Straßenreglement wurde nach den erfolgreichen Barrikadenkämpfen am 18.März auf den Kopf gestellt: Die Straße gehörte dem Volk und ermöglichte nicht nur den Ausbruch aus dem Diktat obrigkeitlicher Normen, sondern auch massenhafte Selbsthilfe, wo es um Brot, Arbeit und die Teilnahme an der „großen Freiheit“ ging. Nur in dieser Phase - so Gailus‘ Befund - konnte ansatzweise jenes Bündnis zwischen Teilen des Bürgertums und den Unterschichten realisiert werden, das angeblich den dauerhaften Erfolg der Revolution gesichert hätte. Näheres Hinsehen jedoch offenbart auch hier, welche enormen sozialen und kulturellen Distanzen jene für dieses Bündnis eintretenden „Volksfreunde“ aus dem Bürgertum von den breiten Volksschichten trennte: Es blieb ein Verhältnis von Erziehern und Aufklärern zu „ungebildeten“ Massen. Die drängten „hier und jetzt“ auf materielle Verbesserungen, halfen diesen Ansprüchen in direkten Aktionen, in physischen und symbolischen Aktionen nach und konnten mit der verbalen Argumentationsweise in Parlamenten, Vereinen und Volksversammlungen nicht viel anfangen. Derweil berappelten sich die Berliner Spießbürger wieder, bildeten eine Schutzmannschaft zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die dann noch vor dem Einmarsch des Militärs im November 1848 der Straßenherrschaft des Pöbels ein Ende bereitete. Die Revolution war damit in Berlin jedenfalls vorbei: Zu ihren wenigen Errungenschaften gehörten die Aufhebung des Rauchverbots und - die Einführung einer modernen Straßenpolizei.

Bei Diskussionen über das Scheitern von Revolutionen wird zumeist ausführlich über die Fehler und Schwächen der Revolutionäre und ihrer Anhänger gesprochen, über die Stärke von Gegenrevolutionen, vor allem, wo diese ihre Anhängerschaft hatten, wird zuwenig nachgedacht. In bislang der Forschung weitgehend unbekannte (vornehmlich preußische) Gebiete wagt sich Gailus mit der Untersuchung plebejischer Unruhen gegen liberale Lokalhonoratioren und andere, die des Mangels an „ächtem“ Preußentum verdächtigt wurden. Gerade auf dem flachen Land, aber auch in Garnisons- und Residenzstädten waren Königstreue und jener spezifische obrigkeitsfixierte Protestantismus von der Revolution mehr oder weniger unberührt geblieben. Statt dessen wurde der Erfolg der bürgerlichen Elite vor Ort mit ihren Handelskontoren und Fabriken, ihrer durch Eigentümerwahlrecht abgesicherten Dominanz in der Verwaltung auch von den Unterschichten als Bedrohung der hergebrachten sozialen Ordnung empfunden. Packend schildert Gailus, wie im westpreußischen Elbing der preußisch-patriotische Festumzug anläßlich des königlichen Geburtstags am 15.Oktober 1849 sich in den Sturm auf den Treffpunkt der Liberalen, das Wirtshaus „Deutscher Michel“, verwandelt. Erst nachdem die Bürgerwehr in die Flucht geschlagen worden war, griff das Militär ein: Acht Tote auf seiten der Volksmenge und zahlreiche Verletzte blieben zurück. Derartige gegen die entschiedenen Modernisierer gerichteten „Exzesse“ - so Gailus‘ Interpretation - sicherten „von außen her“ den Erfolg der von oben eingeleiteten Gegenrevolution ab.

Bestätigten Gailus‘ im übrigen mit Spannung zu lesenden Schilderungen von Massenszenen nun etwa das Intellektuellenvorurteil von den reaktionären Massen, die nichts vom sozialen Fortschritt, nichts vom modernen Parlament wissen wollen und statt dessen treu zu Thron und Altar halten? Es geht ihm um mehr. Gerade der Aktionsort „Straße“, auf dem soziale und politische Forderungen direkt, ohne Umwege auf die verbalen Rituale und Techiken der Gebildeten und Vornehmen vorgebracht und handgreiflich oder symbolisch ausagiert werden, weist über diese Fragestellung aus der Perspektive der Aufklärer und Volks -Erzieher hinaus. In diesen Konflikten treten die Unteren mit ihren kulturellen Normen und Vorstellungen vom „guten“ Leben auf, sie artikulieren einen durch fortschrittliche oder staatspolitische Reflexionen nicht zu hintergehenden „Eigen-Sinn“, der bürgerliche wie wissenschaftliche Beobachter oftmals etwas ratlos erscheinen läßt. Geschichtsphilosophische Projektionen oder Bewertungen wie „rückwärtsgewandt“ oder „reaktionär“ verbieten sich ebenso wie Verklärungen als „revolutionär“ und „systemsprengend“ - Ausgrenzungen und Vereinnahmungen im nachhinein, die dem Selbstbehauptungswillen und der Selbstbezogenheit dieser rebellierenden Menschen auf der Straße nicht gerecht werden. Statt dessen hat Gailus eine Bresche geschlagen in die deutsche Legende von der bürgerlichen Revolution und ihrer übersichtlichen Rollenverteilung: eine Revision, die - im Vergleich zu der Debatte Frankreichs über „seine“ Revolution - schon längst überfällig ist.

Göttingen 1990, Vandenhoeck & Ruprecht, 98 DM

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